Straelener Übersetzerpreis 2019 an Olga Radetzkaja und Jan Schönherr

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Dagmar Fretter von der Kunststiftung NRW (links) mit den Preisträgern Olga Radetzkaja und Jan Schönherr  Foto: Bücheratlas

„Das Lesen übersetzter Bücher“ ist für Olga Radetzkaja „die lustvollste Form der Aneignung anderer Kulturen.“ Auch weil es dabei helfe, „dass wir nicht unter uns bleiben.“ Freilich – um überhaupt in Kontakt mit übersetzter Literatur zu kommen, bedarf es Übersetzerinnen und Übersetzer, unter denen Radetzkaja eine herausragende Vertreterin ist. Und es bedarf einer Öffentlichkeit, die diese wichtige Mittler-Funktion zu würdigen weiß wie jetzt in Straelen am Niederrhein. Das dort ansässige Europäische Übersetzer-Kollegium verlieh nun in Kooperation mit der Kunststiftung NRW den mit 25.000 Euro dotierten Übersetzerpreis 2019.

Dagmar Fretter von der Kunststiftung NRW (die in diesem Jahr noch ihr 30-jähriges Bestehen feiern wird) überreichte die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung an Olga Radetzkaja. Geehrt wurde sie zum einen für ihre Übersetzung aus dem Russischen von Viktor Schklowskijs Roman „Sentimentale Reise“ (Die Andere Bibliothek) und zum anderen für ihr Lebenswerk, zu dem Übertragungen von Werken von Lew Tolstoi, Julius Margolin, Vladimir Sorokin, Evgenij Vodolazkin und Maria Stepanova gehören. In der Begründung der Jury heißt es: „In seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen aus den Jahren nach der russischen Revolution beschreibt Schklowskij eine durch und durch beschädigte Welt auf frappierend unsentimentale Weise.“ Die tiefe Ironie des Originals übertrage Radetzkaja in ein Deutsch von karger Schönheit. Ihr gelinge „das Kunststück, die Härte einer Katastrophenzeit spürbar zu machen und einen Ton zu finden, der bei aller distanzierten Lakonie Mitgefühl weckt.“

Der mit 5000 Euro dotierte Förderpreis ging an Jan Schönherr für den aus dem Englischen übersetzten Roman „Neu-York“ von Francis Spufford (Rowohlt). „Dieses Werk von rasanter Welthaltigkeit“, so die Jury, „überträgt Schönherr mit großer Souveränität und sprachgeschichtlicher Spürlust.“ Schönherr übersetzt aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.

In ihrer Laudatio auf die beiden Preisträger führte Sieglinde Geisel aus, dass Stil und Thema der beiden Werke von höchst unterschiedlicher Art seien. Da die russische Revolutionszeit und dort das junge Amerika, da das schnörkellose und dort das überschwängliche Erzählen, da das Autobiographische und dort das Erfundene (wobei ja alles erfunden sei, wie Geisel betonte und deshalb ihre Rede unter ein Peter-Bichsel-Motto stellte: „Erfinden, was es schon gibt“). Gleichwohl machte die Laudatorin auch Verbindendes aus. Erstens: Beide Texte stellten höchste Anforderungen an die Übersetzer. Zweitens: Die Straelener Jury „korrigiert ein Versagen der Literaturkritik“, die diese beiden Bücher beim Erscheinen im Jahre 2017 ignoriert hätten.

Tatsächlich ist die Lektüre der „Sentimentalen Reise“ ein großer Genuss, wenngleich darin vom Schlimmen geredet wird, von Tod und Folter und Mord und Überwachung in bitteren Zeiten. Mit Ironie und Lakonie führt Viktor Schklowskij durch sein sehr bewegtes Leben zwischen 1917 und 1922. Lenin und Gorki, Bolschewiken und Stubenmädchen, Krieg und Revolution, Verfolgung und Flucht – es ist ein mitreißender Strom. Die Ironie, von der dieses Ereignis-Stakkato geprägt ist, findet sich schon im Titel, denn alles andere als „sentimental“ erzählt der Autor (und Fan von Laurence Sterne, Verfasser von „A Sentimental Journey“). Er sei „ein fallender Stein“, sagt er einmal über sich, aber immerhin einer, „der im Fallen eine Lampe anzünden kann, um seinen Weg zu verfolgen.“

Wie übersetzt man ein solches Werk, fragt Olga Radetzkaja mit Walter Benjamin, der schon 1928 auf dieses Werk gestoßen ist. Tatsächlich ist „Sentimentale Reise“, wie Radetzkaja im Nachwort schreibt, ein Werk, dessen Sätze „von viel Raum, viel Leere umgeben“ sind. Ein harter, kühler, knapper Stil – ein Stil, für den die „Ungeschmeidigkeit“ besonders markant sei. Schklowskij baue keine Brücken, sondern einfache, oft schroffe Sätze. „Diese Offenheit gilt es in der Übertragung zu bewahren.“ All die Konjunktionen, diese „denn“ und „aber“ und „ja“ und „doch“, seien zu vermeiden gewesen. Und was das Buch inhaltlich auszeichne? Der genaue Blick des Autors für die gesellschaftlichen Strukturen. Und seine Abscheu vor jeder Form von „Knechtschaft“.

In ihrer Straelener Dankesrede widmete sich Radtzkaja vor allem dem Problem des Nicht-Verstehens. Selbstverständlich gelte für jeden Übersetzer, dass er nicht übersetzen könne, was er nicht verstanden habe. Und damit ist nicht nur die Vokabelkenntnis gemeint, sondern auch das, was das Buch im Innersten zusammenhält. Das Nicht-Verstehen sei aber auch ein wesentlicher Aspekt des Romans. Zur Hälfte, sagte sie, handele Schklowskij genau davon. Der Autor habe das Staunen zum Schreib-Prinzip erhoben und zeichne überscharf, was er in diesen außergewöhnlichen Zeiten gesehen habe. „Nicht einfühlen, sondern wahrnehmen – darum geht es ihm.“

Der Förderpreis-Träger Jan Schönherr hielt in Straelen seine erste Dankesrede. Er bekannte, dass das Übersetzen eine schöne, aber auch eine oft verunsichernde Tätigkeit sei. Daher tue Zuspruch, wie er sich in einem solchen Preis manifestiere, sehr gut. Auch sei es für die Mitmenschen zuweilen merkwürdig, wenn man immer wieder aus neue über die richtigen Worte brüte. Und so dankte er seiner Freundin für ihr Verständnis – und bat zugleich, von diesem Verständnis für die Eigenarten eines Übersetzers nicht abzulassen: „Ich möchte nichts anderes machen – jetzt erst recht.“

 

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Das Europäische Übersetzer-Kollegium (EÜK) in Straelen – dieses Lob formulierte Schönherr auch noch – sei „A Home Away from Home“. Es handelt sich nach eigenen Angaben um das erste und größte internationale Arbeitszentrum für professionelle Literatur- und Sachbuch-Übersetzer. Dem 1978 gegründeten EÜK geht es darum, „die Wichtigkeit der Literaturübersetzung zu untermauern, die öffentliche Wertschätzung und Anerkennung der Übersetzerinnen und Übersetzer zu fördern und die kulturelle Verständigungsleistung zu vermitteln, die Literaturübersetzerinnen und -übersetzer für die internationale Literatur und Kultur erbringen.“

Dabei hilft auch die über alle Räume und Etagen verteilte Bibliothek. „Es ist die weltweit größte Spezialbibliothek für literarische Übersetzer“, sagte Geschäftsführerin Regina Peeters am Rande des Festakts. Da gibt es nicht nur Wörterbücher aller Art (allein das Angebot zu „Amerikanischer Slang“ füllt ein Regalbrett), sondern auch Nachschlagewerke zu Yoga und Kampfsport, Spielen und Foltermethoden, Comic-Figuren oder ganz gewöhnlichen Persönlichkeiten. Da möchte man doch Übersetzer sein.

Martin Oehlen

Die Bücher der ausgezeichneten Übersetzer

Viktor Schklowskij: „Sentimentale Reise“, dt. von Olga Radetzkaja, Die Andere Bibliothek, 492 Seiten, 42 Euro.

Schklowskij

Francis Spufford: „Neu-York“, dt. von Jan Schönherr, Rowohlt, 400 Seiten, 19,95 Euro. Taschenbuch: 12 Euro. E-Book: 9,99 Euro.

Spufford

 

 

 

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