
Bei Dunkelheit leuchtende Lese-Werbung in der Korte Smeestraat in Utrecht. Der hier noch oben anschlagende „Vorhang“ senkt sich von Lampe zu Lampe. Foto: Bücheratlas
Ohne eine Vorahnung waren wir nicht. Wer liest, weiß manchmal eben mehr. So steht auch das geschrieben über die Fietsfahrer in Utrecht: „Fahren war sowieso der falsche Ausdruck, sie jagten vielmehr in dichten Pulks durch die Stadt, am liebsten zu zweit oder dritt nebeneinander her und völlig ins Gespräch vertieft.“ Julia Trompeter erzählt dies gleich auf der ersten Seite ihres herrlichen Liebeskummer-Romans „Frühling in Utrecht“. Und da war es noch Winter, als die Heldin Klara ihre Ur-Begegnung mit den Fietsen und deren Fahrerinnen und Fahrern hatte. Wir konnten nun den Sachstand im Sommer erleben, also im Zomer, wie es in der Sprache heißt, die uns so vertraut erscheint und die doch so viele semantische Tücken hat. Auch davon erzählt Julia Trompeter. Aber hier geht es um Utrecht.
Als Autofahrer ist man in der Stadt ein Mensch von gestern. Früher oder später wird dies in allen Innenstädten des Globus so sein. Aber momentan ist Utrecht in dieser Hinsicht ganz weit vorne. Auch ohne Fahrverbote. Denn zunächst einmal gilt es, die vielen und breiten Fahrrad-Wege zu erkennen und zu meiden. Hinzu kommen die Bus-Trassen, die einen kräftigen Akzent im Straßennetz setzen. Also – am besten lässt man den Wagen zuhause, sofern man in die Innenstadt streben sollte.
Aber auch als Fußgänger darf man sich seines Wohlergehens nicht allzu sicher sein. Tatsächlich jagen die Fahrradfahrer kreuz und quer durch die Altstadt, ohne den Anschein zu erwecken, vor einer möglichen Kollision mit dödeligen Passanten zurückzuschrecken. Egal ob mit oder ohne Helm. All das auf leisen Reifen, so dass es sich allzeit empfiehlt, nach Fietsen Ausschau zu halten. Ein permanenter Bewegungsstrom, so scheint es, mit dem einzigen Ziel der Bewegung.
Dabei gibt es einige gute Gründe zum Verweilen. Manche meinen, das quirlige Utrecht sei eine erstklassige Alternative zum überlaufenen Amsterdam. Grachten und Gastronomie gibt es in Fülle. Einige sympathische Plätze zudem. Dann ist da der Dom mit dem höchsten Kirchturm des Landes, der seit dem 17. Jahrhundert isoliert in den Himmel ragt, nachdem ein Tornado in der Stadt gewütet hatte. Oder das Rietveld-Schröder-Haus als Ikone der De-Stijl-Bewegung, ein Weltkulturerbe, schon etwas am Rande gelegen.
Und dann noch das: Utrecht ist offizielle Literaturstadt der Unesco. Im Netzwerk der „Creative Cities“ mischt die viertgrößte Stadt der Niederlande mit. Kennt man noch nicht so richtig, dieses Label. Auch Deutschland hat eine offizielle Literaturstadt. Na, welche? Gut, genug geraten! Es ist Heidelberg (u.a. wegen der Bibliotheca Palatina). Insgesamt gibt es vier Kreativstädte in Deutschland. Neben Heidelberg noch Berlin für Design und Hannover und Mannheim für die Musik. Warum? Wieso gerade die? Dass die deutsche Unesco-Kommission für Mannheim als Argument unter anderem die „Söhne Mannheims“ erwähnt, weckt Zweifel statt Vertrauen.
Literatur-Spuren findet der Besucher in Utrecht durchaus. Zwar hat man in der Touristen-Information am Dom noch nie von der „City of Literature“ gehört: „Was soll das sein?“ Aber die Buchhandlung im Studentenviertel wirbt mit der Auszeichnung ebenso wie das Literatuurhuis an der Oudegracht 237. Es gibt eine Bronzestatue des keck die Nase in die Luft streckenden François Villon in der Straße Achter de Dom, es gibt Spezial-Buchläden für Comics oder für Reisboeken und es gibt eine originelle Straßen-Beleuchtung in der Korte Smeestraat im Museumkwartier (was die Verlängerung von der Lange Smeestraat ist). Dort wird für das Lesen geworben mit einem sich von Leuchte zu Leuchte verändernden Gute-Nacht-Motiv: „Evening Time is Reading Time“.
Ja, und dann leuchtet da noch diese Liebeserklärung von Julia Trompeter an Utrecht zu allen vier Jahreszeiten. Warum der Roman noch nicht ins Niederländische übersetzt worden ist, verstehe, wer will. Eine Motivation, sich der jungen alten Stadt zu nähern, ist er allemal. Trotz der Fietsen-Jagerei.
Martin Oehlen
Eine Besprechung von Julia Trompeters Roman „Frühling in Utrecht“ gibt es hier.