Insel der Kobolde und des Schweigens: „Schilf im Wind“ ist das Meisterwerk der Nobelpreisträgerin Grazia Deledda

Foto: Bücheratlas

Don Giacinto radelt per Fahrrad in die alte Welt. Der Sohn von Lia Pintor besucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Ort auf Sardinien, aus dessen Enge die mittlerweile verstorbene Mutter einst geflohen war. Es ist der Wechsel auf eine archaische Insel, geprägt von Armut und Ehre. Weder ist die Malaria ausgerottet noch der Aberglaube an Feen und Kobolde. Dort lernen wir den sympathischen Knecht Efix kennen, bei dem eine lang zurückliegende Auseinandersetzung für Schuldgefühle sorgt. Er unterstützt Lias drei Schwestern, deren heruntergekommenes Gut kaum noch etwas abwirft. Dass er für seine Dienste nicht entlohnt wird, nimmt er dem Trio nicht übel. Als nun Don Giacinto auftaucht, wirkt der zunächst wie ein strahlender Prinz, der das Dorf wachküsst. Doch bald stellt sich heraus, dass da mehr Schein als Sein ist – und dass das Glücksspiel sein Laster ist.

Übersetzung in frischer Überarbeitung

Grazia Deledda, am 18. September 1871 in Nuoro auf Sardinien geboren, gehört nicht zu den Autorinnen, die heutzutage weithin bekannt sind. Einerseits ist das womöglich nachvollziehbar, lebte die Italienerin doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, andererseits handelt es sich bei ihr um die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 1926. Nun bietet die Neuausgabe ihres Romans „Schilf im Wind“ von 1913, das in der Romanistik als ihr „Meisterwerk“ gewürdigt wird, eine günstige Gelegenheit zum Kennenlernen. Anlässlich des 150 Geburtstages der Schriftstellerin erscheint eine gründliche Überarbeitung der Übersetzung von Bruno Goetz aus dem Jahre 1951. Jochen Reichel erläutert in einer editorischen Notiz seine zahlreichen Eingriffe – bei der Wortwahl, der exakten Wiedergabe topographischer Angaben, der Beachtung von Tempus- und Stilwechseln. Alles in allem verströmt die Übersetzung eine Frische und Intensität, die pure Lesefreude beschert.  

In einer Region, in der Frauen zu jener Zeit zumeist Analphabetinnen waren, schockierte Grazia Deledda damit, dass sie Geschichten über ihre Heimat veröffentlichte. Im Nachwort erläutert Federico Hindermann zwei Aspekte dieses Schocks. Vielen Sarden schien es demnach unangemessen zu sein, dass sich eine Frau zu Wort meldete, statt sich in Verschwiegenheit zu üben. Ein wahrhaft emanzipatorischer Schritt, den Deledda da vollzogen hat. Und dass die Autorin dann auch noch die Rückständigkeit der bis dahin „wortlosen“ Insel in Worte fasste, nahm man ihr übel. Gleichwohl bestätigt der aufschlussreiche Anmerkungsteil die Fiktion, spricht von verbreitetem Bettelwesen und „Banditismus“.

Die Autorin, die wie die Lia des Romans von der Insel aufs Festland gezogen ist, beschreibt anschaulich Mensch und Natur. Wie tief das Ehrbewusstsein reichen kann, erfahren wir von Efix: „Auf den Stufen des Hoftors schüttelte er abwechselnd beide Füße, um nicht einmal den Staub des Hauses, das er verließ, mit sich zu nehmen.“ Was die Natur betrifft, so meint man nicht selten, ihr ganzes Aroma einsaugen zu können: „Und eine tiefe duftende Stille senkte sich mit dem Schatten der Mäuerchen nieder; alles war warm und voller Vergessen in diesem von den Feigenkakteen wie von einer grünen Mauer umfriedeten Fleckchen Erde …“

Wind des Schicksals

„Canne al vento“ – so der Originaltitel, der auf eine Bibelstelle anspielt – rückt Menschen ins Zentrum, die in Armut oder an der Armutsgrenze leben. Mit der genauen Schilderung ihrer Lebensumstände ist dieser Roman ein Beispiel für den Verismus, das italienische Pendant zum deutschen Naturalismus. Wer freilich befürchtet, ein Exerzitium in Trostlosigkeit erdulden zu müssen, kann beruhigt werden. Grazia Deledda erzählt abwechslungsreich von den Irrungen und Wirrungen der Protagonisten. „Man durfte hoffen“, heißt es einmal, „doch nicht allzu sehr vertrauen.“ So wie das Schilfrohr, das immer in Gefahr ist, vom Wind gebrochen zu werden. Vom Wind des Schicksals.

Grazia Deledda, die am 15. August 1936 in Rom einem Krebsleiden erlag, hat ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, darunter auch den autobiographisch geprägten Roman „Cosima“, der erst nach ihrem Tod erschienen ist. Den Nachruhm der Autorin hat zunächst offenbar die Tatsache getrübt, dass sie sich 1927 positiv zum Faschismus geäußert hat – zu dessen Verpflichtung auf Familie und Heimat. Allerdings ist ungewiss, ob sie dieser Position treu geblieben ist. Auf einschlägigen Webseiten der Universitäten Düsseldorf und Bonn finden sich Würdigungen der Autorin, in denen darauf verwiesen wird, dass sie sich später nicht mehr zum Thema geäußert habe. „Diese missverständlichen Aussagen“, so heißt es auf der Phil-Fak-Seite aus Düsseldorf, „haben zu einer Festlegung ihres Gesamtwerkes geführt, welche diesem nicht gerecht wird.“ Im Nachwort der schön gestalteten Neuausgabe des Manesse-Verlags ist davon keine Rede mehr.

Martin Oehlen

Grazia Deledda: „Schilf im Wind“, dt. von Bruno Goetz, überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jochen Reichel, mit einem Nachwort von Federico Hindermann, Manesse Verlag, 448 Seiten, 25 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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