„Mit Kindern wäre alles anders“: Hiroko Oyamadas großartiger Roman „Das Loch“ erzählt von einer Frau zwischen Konvention und Irritation  

Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Eine Preziose – das ist der Roman „Das Loch“ von Hiroko Oyamada! Er fügt sich brillierend ein in den Literaturkosmos des magischen Realismus „made in Japan“, jener Werke also, die mit leichter bis mittelschweren Phantastik die Wirklichkeit erschüttern und erhellen. In deutscher Übersetzung liegen mittlerweile zahlreiche Attraktionen vor – selbstredend gleich mehrere von Haruki Murakami, dann einige von Sayaka Murata und schließlich die Stories von Yukiko Motoya.

Nun also Hiroko Oyamada, die eine begeisterte Kafka-Leserin ist, was nach der Lektüre ihres schmalen Romans wenig erstaunt. Die Autorin aus Hiroshima, wo sie 1983 geboren wurde, hat bisher vier Romane veröffentlicht. Alle tragen einen minimalistischen Titel: Fabrik, Loch, Garten, Inselchen. Allerdings ist „Das Loch“ das erste Werk, das auf Deutsch erscheint. Und abermals wissen wir die Leistung der Übersetzerinnen zu schätzen – in diesem Falle die von Nora Bierich, die uns die verstörende Geschichte der jungen Frau nahebringt, die eines Tages in ein brusthohes Loch fällt.

Leben für die Arbeit

Asahi selbst erzählt uns ihre Geschichte. Als Ehemann Muneaki einen neuen Job in der Provinz annimmt, gibt sie ihre Stelle in der Stadt auf. Zufrieden war sie sowieso nicht im Büro, denn im Gegensatz zu den fest angestellten Kolleginnen und Kollegen wird sie als „Freie“ deutlich schlechter entlohnt. Rückblickend sagt sie: „Wir erledigten außerdem Arbeiten, die nicht zu unseren Aufgaben gehörten, nahmen Bestellungen an oder führten die Korrespondenz mit den Geschäftspartnern.“

Die japanische Arbeitswelt ist in diesem Roman ein stets präsentes Thema. Klar ist: Gearbeitet wird ohne Rücksicht auf das Privatleben. Life-Work-Balance? Lustige Idee. Wer einen Job hat, der zeichnet sich dadurch aus, um Mitternacht nach Hause zu kommen. So wie Asahis Ehemann und wie dessen Eltern, die am neuen Wohnort in der Provinz gleich nebenan wohnen.

„Es ist nett mit ihm“

Asahi ist nun arbeitslos – und macht keine großen Anstalten, sich eine neue Anstellung zu besorgen. Dabei ist ihr schon ein wenig langweilig. Da mutiert der Gang in den Supermarkt zum Höhepunkt des Tages. Auch ihre Ehe ist kein Feuerwerk, sondern ein müdes Arrangement. „Es ist nett mit ihm, kostet mich aber auch einige Mühe“, sagt die Erzählerin. Was der Gemahl konkret arbeitet, wüsste sie nicht zu sagen.

Während Muneaki selbst bei einer Totenfeier auf seinem Smartphone herumtippt, nimmt Asahi die Natur mit übersinnlichen Kräften wahr. Selbst das Kratzen von Tausendfüßlern dringt an ihr Ohr. Solche Naturbeschreibungen gehören zu den Höhepunkten des Romans. Die Intensität ist enorm, die Details erreichen zuweilen den Mikrobereich: die Schnittschärfe des Schilfs, der Panzer eines roten Käfers, das Geräusch einer urinierenden Zikade im Flug („Tsssschiiiii“).

Das schwarze Tier eilt voran

Eines Tages entdeckt Asahi auf einem ihrer Wege ein schwarzes, nie gesehenes und nicht genauer zu bestimmendes Tier. Unwillkürlich folgt sie diesem Geschöpf – wie Alice im Wunderland einem weißen Kaninchen gefolgt ist. Doch Asahi fällt nicht in einen Kaninchenbau, sondern in ein Loch, aus dem sie so gerade noch herausschauen kann. Aus der Froschperspektive nimmt sie die üppig wuchernde Natur wahr. In der Hitze des Sommers stellt sie fest: „Es war nicht ungemütlich, aber auch nicht einfach, dort wieder herauszukommen, denn es war tief.“ Allein schafft sie es nicht. Erst eine Nachbarin kann sie aus dem Erdloch befreien.  

Das Unheimliche kommt in diesem Roman beiläufig daher. Dazu gehören die Kinder, die zuweilen in einschüchternder Schar auftreten, obwohl es angeblich kaum Kinder in der Gegend gibt. Möglicherweise spielt das Unterbewusstsein der Frau ein paar Streiche. Schließlich ist die Erwartung der Gesellschaft, Nachkommen vorzuweisen, nicht gering. „Mit Kindern wäre alles anders“, weiß Asahi, „aber allein schon die Vorstellung, einen Säugling zu stillen, machte mich depressiv.“

Sehen, was man sehen will

Für eine weitere Irritation sorgt ein sogenannter Hikikomori, ein Weltflüchtling, der sich als Bruder ihres Mannes ausgibt. Allerdings war von einem Schwager nie die Rede gewesen. Der Mann verweist auf „eine Art Tragödie“. Die Familie betrachtet er als „eine merkwürdige Einrichtung“, und er fragt: „Muss jeder und jede Kinder hinterlassen?“ Das Internet ist ihm unbekannt, aber das Leben nicht. So meint er, dass die Menschen nur sehen, was sie sehen wollen.

Der Roman selbst reicht dafür den Beleg nach. So sprengt der Großvater, der ebenfalls im Nachbarhaus wohnt, ausgiebig den Garten – jeden Tag und selbst im strömenden Regen. Dass er dement ist, will dennoch niemand wahrhaben. Das alles wird mit einer Prise Poesie angereichert: Einmal hat der Großvater „den Schlauch geradewegs nach oben gerichtet, er war in einen Nebel aus Wasser gehüllt. Darüber lag ein Regenbogen.“   

Plötzlich mitten im Sturm

Auf der Kurzstrecke von 118 Netto-Seiten bringt Hiroko Oyamada vieles unter, ohne dass sie Geschichte überladen wirkte. „Das Loch“ wurde in Japan mit dem Akutagawa-Preis geehrt, der bedeutendsten literarischen Auszeichnung des Landes. Ein Roman über Konvention und Irritation, flirrende Natürlichkeit und abgestumpfte Zivilisation. Die Geschichte entwickelt sich wie ein Sturm, dessen Anwachsen man zunächst nicht wahrnimmt – und der einen dann kräftig durchschüttelt. Eine Preziose – wir sagten es schon.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir japanische Literatur schon häufig besprochen. Darunter sind von Haruki Murakami unter anderem „Erste Person Singular“ (HIER) und die Neuübersetzung von „Die Chroniken des Aufziehvogels“ (HIER), von Sayaka Murata „Die Ladenhüterin“ (HIER) und „Das Seidenraupenzimmer“ (HIER) und von Yukiko Motoya die Story-Sammlung „Die einsame Bodybuilderin“ (HIER).

Lesungen

mit Hiroko Oyamada gibt es in Berlin (13. 9. 2024), Kufstein (14. 9. 2024) und Köln (17. 9. 2024).

Hiroko Oyamada: „Das Loch“, deutsch von Nora Bierich, Rowohlt Verlag, 126 Seiten, 22 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Ein Gedanke zu “„Mit Kindern wäre alles anders“: Hiroko Oyamadas großartiger Roman „Das Loch“ erzählt von einer Frau zwischen Konvention und Irritation  

  1. Ein außergewöhnliches Buch, habe es auch gerne gelesen. Die Metaphern waren sehr verschroben, mich erstaunt auch die sehr offenherzige Diskussion von sehr fundamentalen Krisen in der japanischen Literatur. Viel direkter, als ich es erwartet hätte.

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