„Das Leben war ihre eigentliche Schule, die Bücher waren ihre eigentlichen Lehrer“: Jenny Erpenbeck beim „Anderland“-Festival in Köln (2)

Foto: Bücheratlas

Gedichte mochte ich überhaupt nicht lesen, weil man dabei nicht stricken kann“, schreibt Christine Lavant im Jahre 1957. Wer freilich die Gedichte der Autorin liest, wird das Stricken kaum vermissen. „Christine Lavants Lyrik zählt zum Eigenständigsten und Besten, das im 20. Jahrhundert in deutscher Sprache geschrieben wurde“, sagt Klaus Amann, der vor zwei Jahren gemeinsam mit Doris Moser die vierbändige Werkausgabe im Wallstein Verlag herausgegeben hat (über die wir HIER berichtet haben).

„Verletzte Seelen“

Amann stellt in einem Beitrag für die „Christine-Lavant-Gesellschaft“ weiter fest, dass die Österreicherin zwar als Lyrikerin bekannt, aber als „große Prosa-Autorin“ von einer breiteren Öffentlichkeit noch zu entdecken sei. „Sie erzählt hinreißend von dem, was sie am besten kennt: von verletzten Kinder- und Frauenseelen, von den feinen und weniger feinen gesellschaftlichen Unterschieden, von Armut, Krankheit und Ausgrenzung, von erzwungener Anpassung, Bigotterie und Gewalt, aber auch von der befreienden Kraft der Liebe und der Fantasie.“

Jenny Erpenbeck („Gehen, ging, gegangen“, „Kairos“) singt nun ein weiteres Loblied auf Christine Lavant (1915-1973). In diesem Sommer hat sie bei Kiepenheuer & Witsch eine Monografie über die Kollegin herausgebracht. Zudem tritt sie am Montag beim „Anderland“-Festival in Köln auf, um über Christine Lavant zu sprechen. Sie tut es dann gemeinsam mit Monika Rinck, deren Lavant-Liaison wir auf diesem Blog HIER dargelegt haben.

„Genauigkeit des Ausdrucks“

Entlang der Archivalien und der Veröffentlichungen schildert Jenny Erpenbeck das schöne Werk der Christine Lavant und ihre schwieriges Leben. Krankheit, Armut und einige Beziehungskalamitäten: die Ehe mit dem 36 Jahre älteren Josef Habernig, den sie in späteren Ehejahren „Herr Habernig“ nennt, und die glücklich-unglückliche Beziehung zum Maler Werner Berg. Mehrfach hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen.

„Durch Einsamkeit, Enttäuschungen, Todesnähe hindurchgehen und im Jenseits der Unbotmäßigkeit, der Auflehnung ankommen, das gelingt nur wenigen“, schreibt Jenny Erpenbeck. „Wie Christine Lavant sich allen Widrigkeiten zum Trotz und aus eigener Kraft zu der Person, die sie sein wollte, gemacht hat – das ist unerklärlich und beispielhaft.“ Hilfreich auf diesem Weg: „Ihr außergewöhnliches Sprachempfinden.“

Die Brandlöcher der Lavant

„Das Leben war ihre eigentliche Schule, die Bücher waren ihre eigentlichen Lehrer“, meint Jenny Erpenbeck. „Lesend ist sie eingetreten in den Schacht des Erzählens, wo durch den Strom der Worte alle Zeiten miteinander verbunden sind.“ Die Autorin preist die Lavant nicht zuletzt dafür, „mit welcher Professionalität sie an der Genauigkeit des Ausdrucks gearbeitet hat.“ 

Jenny Erpenbecks Recherchereise führt auch ins Musil-Haus nach Klagenfurt, wo Christine Lavants Stube mit den Originalmöbeln nachgebaut worden ist. Was dort zu sehen ist: „Der flache helle Holztisch, den die Kettenraucherin an den Stellen, wo die Asche ihrer Zigaretten Brandlöcher hinterlassen hat, mit Kacheln aus Karton beklebt hat – auf denen sind bunte, märchenhafte Motive zu sehen: ein Hirsch, eine Zwiebel, aus der eine Tulpe sprießt, ein Hähnchen, ein Pfau. Auch ein Sofa steht da, über dessen Armlehne liegen zwei wollene Jacken, die Christine Lavant selbst gestrickt hat.“

„Eine fremde Welt“

Nicht zuletzt erinnert sich Jenny Erpenbeck an ihre erste Begegnung mit dem Werk. Bei einer Autofahrt durch Kärnten habe ihr Mann beiläufig gesagt: „Und nach dem Fluss hat sich ja auch Christine Lavant benannt.“ Bald darauf schenkte er ihr den Gedichtband „Spindel im Mond“: „Und dann lese ich, dreißigjährig, zum ersten Mal, Gedichte der dreißigjährigen Christine Lavant.“

„Wenn ich dichtete“, schrieb Christine Lavant einmal, „risse ich jede Stelle Eures Daseins unter Euren Füßen weg und stellte es als etwas noch nie von Euch Wahrgenommenes in Euer innerstes Gesicht.“ Dieser Konjunktiv, befindet Jenny Erpenbeck, sei nicht notwendig gewesen: „Denn so geht es mir, als ich zum ersten Mal ihre Gedichte lese.“ Will sagen: Eine umwerfende Lektüre. Es habe sich ihr „eine fremde Welt aufgetan, „die ich nicht kannte und doch im ersten Moment wiedererkannt habe“.

Hölderlin als Urmeter

Es liegt nahe, dass bei einer solchen biografischen Annäherung auch manch Autobiographisches aufscheint. Und selbstredend schätzt Jenny Erpenbeck nicht nur das Werk von Christine Lavant. Sie stellt fest, dass Friedrich Hölderlin für sie eine Art „Urmeter der deutschen Sprache“ sei (um gleich hinzuzufügen, dass es in der Kunst keinen Wettbewerb gebe). Hölderlin als Helfer in der Schreibnot: „Wann immer ich in einem eigenen Text feststecke, meine Sprache verloren habe, in Momenten, in denen ich aufhören will zu schreiben für immer, weil ich aus dem Sumpf der Wörter nicht mehr aufkomme, dann ziehe ich Hölderlin aus dem Regal wie eine Medizin.“

Soweit zum ersten Abend. Wie es am Dienstag weitergeht, mit „mama hinne / mama dalli / mama nomal“, folgt in einem weiteren Beitrag auf diesem Blog.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir bereits einen Beitrag über Monika Rincks Ansichten zu Christine Lavant veröffentlicht – und zwar HIER.

Dem Buchhändler Klaus Bittner haben wir zur Premiere des „Anderland“-Festivals im Mai 2023 HIER einige Fragen gestellt. 

Die Werkausgabe von Christine Lavant haben wir HIER vorgestellt.

Über die Poetica, das Kölner Poetik-Festival, haben wir mehrfach berichtet. Den Jahrgang, den Uljana Wolf kuratiert hat, gibt es HIER

Das Festival „Anderland“

wird von der Buchhandlung Bittner – namentlich von Klaus Bittner und Christoph Danne – in Kooperation mit der Stadtbibliothek Köln und dem Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln realisiert. Es findet in diesem November zum zweiten Mal statt. Bei der Premiere im Mai 2023 traten Federico Italiano, Raoul Schrott und Jan Wagner auf.

Die Termine

„Anderland“, das Kölner Festival zur Poesie, findet in diesem Herbst zum zweiten Mal statt. An zwei aufeinander folgenden Tagen steht die Lyrik in der Kölner Zentralbibliothek am Neumarkt im Zentrum. Zu Gast sind Jenny Erpenbeck, Monika Rinck und Uljana Wolf.

Montag, 6. November, 19 Uhr – Der erste Abend ist der österreichischen Dichterin Christine Lavant (1915 – 1973) gewidmet. Zu Beginn wird das Filmporträt „Wie pünktlich die Verzweiflung ist“ (ORF 2023, circa 45 Minuten) gezeigt, das anlässlich des 50. Todestags von Christine Lavant entstanden ist. Anschließend sprechen Jenny Erpenbeck und Monika Rinck über Werk und Person.

Dienstag, 7. November, 19.30 Uhr – Am zweiten Abend stellen Monika Rinck und Uljana Wolf ihre eigenen Werke vor. 

Der Eintritt für einen Abend kostet 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Das Kombiticket für beide Abende kostet 18 Euro.

Anmeldung/Vorverkauf: Buchhandlung Klaus Bittner, Albertusstraße, Köln.

Die Mitwirkenden

Jenny Erpenbeck, 1967 in Ost-Berlin geboren, ist Autorin zahlreicher Romane, Erzählungen und Essays. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Internationalen Stefan-Heym-Preis. „Kairos“, ihr jüngster Roman, ist 2021 im Penguin Verlag erschienen. Jüngst veröffentlichte sie eine Monografie über Christine Lavant im Verlag Kiepenheuer & Witsch und eine Ausgabe mit Gedichten der Lavant im Wallstein Verlag.

Monika Rinck, 1969 in Zweibrücken geboren, veröffentlichte Essays, Prosa und Gedichte. Ihre Arbeit wurde mehrfach mit Preisen gewürdigt, zuletzt mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Sie war Kuratorin der dritten Ausgabe des Kölner Festivals Poetica und ist Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln. 

Uljana Wolf, 1979 in Berlin geboren, ist Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin. Soeben ist ihr Gedichtband „Muttertask“ bei kooksbook erschienen. Für den Essayband „Etymologischer Gossip“ erhielt sie im vergangenen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Sie erhielt  unter anderem den Peter-Huchel-Preis und den Adelbert-von-Chamisso-Preis. 2022 kuratierte sie die Poetica VI in Köln.

Zu Christine Lavant

sind im September 2023 zwei Anthologien im Wallstein Verlag erschienen .

Jenny Erpenbeck hat eine Gedichtauswahl zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen: „Seit heute, aber für immer“, 162 Seiten, 24 Euro, E-Book: 18,99 Euro.

Klaus Amann legt als Herausgeber einen Band mit Biographischem vor: „Ich bin maßlos in allem“, 456 Seiten, 34 Euro, E-Book: 26,99 Euro.

Jenny Erpenbeck: „Über Christine Lavant“, Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

4 Gedanken zu “„Das Leben war ihre eigentliche Schule, die Bücher waren ihre eigentlichen Lehrer“: Jenny Erpenbeck beim „Anderland“-Festival in Köln (2)

  1. Eine allgemeine Anmerkung: Ich hoffe, die Veröffentlichung der Beiträge des Bücheratlas-Blogs um 3 Uhr irgendwas am Morgen lässt keine Rückschlüsse auf die Stunde ihrer Niederschrift zu? – Weiterhin ein anregendes Poesiefest! Danke für die Berichterstattung und die stets gute und hilfreiche Dokumentation.
    Hab zwei Lavant-Bände aus dem Otto Müller Verlag Salzburg hier, Die Bettlerschale und Der Pfauenschrei, und bin zuversichtlich, sie eines nicht fernen Tages endlich zu lesen. Die Gewährsleute für Christine Lavant sind zumindest vertrauenswürdig: Monika Rinck, Jenny Erpenbeck, Thomas Kling und wer weiß wer nicht noch.

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  2. Ein starker Abend! Besten Dank für den Tipp, hätte ich ungern verpasst !!

    Geteilt habe ich den Tipp übrigens auch,- in Literaturclub.

    Dea Bohde

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