
So nicht. Seine Lesung auf Schloss Sayn hatte sich der Schriftsteller ganz anders vorgestellt. Keinesfalls als „Katastrophe“, als die sie sich am Ende entpuppte. Gewiss zählt der Ich-Erzähler in Arnold Stadlers neuem Roman „Irgendwo. Aber am Meer“ nicht zu den Zeitgenossen, die fest davon ausgehen, dass das Leben ausschließlich gut und schön verlaufe. Eher ist das Gegenteil der Fall. Nicht selten wähnt sich der Held auf dem Holzweg (womit er auf einen Buchtitel von Martin Heidegger anspielt, einer Großfigur aus der dörflichen Region, in der Arnold Stadler, der am Martin-Heidegger-Gymnasium in Meßkirch sein Abitur gemacht hat, zuhause ist). Doch mit dem Eklat im Westerwald hatte selbst er nicht gerechnet.
Eine Frage der Flugscham
Was war geschehen? Das Publikum stellte den Schriftsteller zur Rede, was er von Greta Thunberg halte und was sein Beitrag zur Energiewende sei. Inspiriert wurde die Frage dadurch, dass er mit einem Roman zu Gast war, der von einer Reise zum Kilimandscharo handelte, wie sie Arnold Stadler im Jahr 2021 in seinem Buch „Am siebten Tag flog ich zurück“ beschrieben hat (und das wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben). Plötzlich ist nicht die Literatur, sondern die Flugscham von oberstem Interesse.
Der Ich-Erzähler kommt zu dem Schluss: „Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatten hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte. Und sie selbst nahmen es sich auch übel, dass sie zu mir und nicht zu Greta Thunberg gereist waren.“
Zwischen Skorpios und Ithaka
Schwer angeschlagen, wenn auch nicht knockout, flieht der Erzähler erst nach Hause und dann nach Griechenland. Auf der Insel Keflada will er an seinem neuen Buch schreiben – so eines wie „Irgendwo. Aber am Meer“. Doch die Gedanken schweifen immer wieder ab. Dazu trägt der „allerschönste“ Blick auf die Nachbarinsel Ithaka bei, die aufs Engste mit dem herumirrenden Odysseus verbunden ist. (Das Ithaka-Foto auf dem Buchumschlag stammt übrigens von Arnold Stadler.) Und auch der Blick auf die Insel Skorpios, die sich in Privatbesitz befindet und vor 55 Jahren Hochzeitsschauplatz von Aristoteles Onassis und Jacqueline Kennedy war, bietet allerlei Anregung, über die Ungleichheit auf Erden zu sinnieren.
Einerseits erweckt der Ich-Erzähler den Eindruck, mit den Herausforderungen des Alltags im Kleinen und denen des Lebens im Großen nicht recht klarzukommen. „Das Leben? Es war nicht zum Spaß, sondern weil es sein musste.“ Aber andererseits ist er hellwach beim Blick auf die Verhältnisse. Nicht nur wenn es um Arm und Reich geht. Auch widmet er sich der Konkurrenzgesellschaft mit ihrem „Druck machen“ und „muss jetzt liefern“. Selbstverständlich ebenso der Klimakrise. Noch häufiger geht es um Krieg und Frieden: „Solange es einen Wehretat in Höhe von fünfzig Milliarden Euro gab und geben musste, stimmte etwas mit den Menschen, auch in diesem Lande, nicht.“
„Ach, bestand ich nur aus Wiederholungen?“
Arnold Stadler erfreut aufs Neue mit seinem ausgefuchsten Räsonieren. Da kommt er vom Hölzchen aufs Stöckchen, zitiert er Prof. Rathofer und eigene Werke, erinnert er sich an Rex Gildos Butterfahrten und an eine (bewegende) Reise mit Vater und Mutter nach Sizilien, kommt ihm Tuttlingens Kannitverstan und sein hinreißender Schrotthändler in den Sinn, kritisiert er die aktuelle Friedhofsordnung und zeigt er sich solidarisch mit jenen, die nach der Landung im Flugzeug applaudieren, was ja als uncool gilt und von ihm selbst nicht praktiziert wird, wenngleich – aber wir verlieren uns. Der Erzähler jedenfalls findet immer wieder zurück in die Spur.
Herrlich vertraut sind die Stadler‘schen Repetitionen: „Ach, bestand ich nur aus Wiederholungen?“ Diesmal pflegt er mit besonderer Aufmerksamkeit einen Satz des Kollegen Franz Hodjak: „In welche Himmelsrichtung willst du dich verirren?“
„Würde ich als Mann der schönen Sätze enden?“
Aber auch die Behauptung „Dieses Mal war alles ganz anders“ hat ein feines Beharrungsvermögen. Ebenso der Vergleich „Waffen gegen den Krieg sind wie Schnaps gegen den Alkoholismus“. Schließlich kommt er einige Male zurück auf Heimweh und Sehnsucht, Enge und Weite. Und dann das Meer. Schon bei dem Wort, sagt er, höre er immer „ein Ausrufungszeichen“ mit.
Es ist ein wortmächtiges Erzählen. Mit augenzwinkernden Pointen: „Mich gehenzulassen war mittlerweile die einzige Weise meiner Fortbewegung geworden…“ Überhaupt gibt es viele schöne Sentenzen aus eigener und fremder Wortschöpfung. Dazu die Selbstbetrachtung: „Würde ich als Mann der schönen Sätze enden?“
Umwege und Holzwege
Was tun, wenn die Zeit vergeht, aber nicht der Schmerz? Schreiben hilft. Zumal dann, wenn es allzu arg zugeht. „War Schreiben nicht das Übersetzen von Schmerz in Sprache?“, fragt der Ich-Erzähler. Wir, die wir seine Geschichte gelesen haben, können antworten: Ja.
Aber! Trotz alledem, trotz Lesungsstress und Lebensstress, trotz Umwege und Holzwege ist das Glas nicht halb leer, sondern halb voll. „War mein Leben nicht auch so etwas Schönes?“ Die Sehnsucht bleibt. Und ebenso das eine oder andere Ziel. Auf Ithaka – zum Beispiel – war er noch nie. Und wenn dort vom „Meer“ die Rede ist, hört man gleich mehrere Ausrufungszeichen mit.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Arnold Stadlers Roman „Am siebten Tag flog ich zurück“, der im neuen Werk seine Kreise zieht, HIER vorgestellt. Außerdem ging es um „Mein Leben mit Mark – Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey“ (HIER) und des Schriftstellers Ansichten über Hans Bender (HIER).
Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“, S. Fischer, 224 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
