Arnold Stadler als Kunstfreund und Missionar: „Mein Leben mit Mark – Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey“

Blick in die Mark-Tobey-Ausstellung in Singen Fotos (oben und im Header): Kunstmuseum Singen / Bernhard Strauss, Freiburg

Wer Arnold Stadlers Roman „Am siebten Tag flog ich zurück“ gelesen hat, der vor einem Jahr bei S. Fischer erschienen ist, war bereits frühzeitig im Bilde. Denn in diesem Afrika-Buch, das am Fuße des Kilimandscharo spielt und das wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben, trifft der Erzähler auf zwei Frauen aus Seattle. Sofort ist er begeistert, weil das Paar aus jener Stadt stammt, in der eine Weile auch Mark Tobey gelebt hat. Mark Tobey – das sagt der Erzähler dann eher zu uns als zu den Frauen, die von dem Künstler noch nie gehört hatten – sei sein Lieblingsmaler, über den er auch noch ein Buch schreiben wolle, das „Mein Leben mit Mark“ heißen solle.

Schlimmer als das Weitergehen ist nur das Stehenbleiben

Nun liegt das Buch über Mark Tobey vor. Und es heißt, wie es heißen sollte: „Mein Leben mit Mark – Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey“. Schnell wird klar, weshalb sich Arnold Stadler zum Werk des Künstlers hingezogen fühlt. Einiges von dem, was ihn beruflich und privat umtreibt, findet er im Leben und Werk des Amerikaners.

Mark Tobey (1890 – 1976) war viel unterwegs zwischen Provinz und Metropole. Zwischen Centerville und Seattle, Trempealeau und New York. In einem japanischen Zen-Kloster hat er sich in die Kunst der Kalligraphie einführen lassen. Schließlich war er in Basel wohnhaft, wohin er 1960 mit seinem Lebenspartner Per Hallsten gezogen war. Tobey vertrat die Ansicht: „The only thing worse than moving ist staying where you are.“ Mal leichthin übersetzt: Schlimmer als das Weitergehen ist nur das Stehenbleiben.

Alles hängt mit allem zusammen

Diese Sehnsucht nach Bewegung, hinaus in die Welt und zurück, treibt auch Arnold Stadler um und an. Ein Leben zwischen Rast und Unrast, vom Wendland bis nach Feuerland. Und wie Mark Tobey, so wollte einst auch Arnold Stadler Priester werden. Später bekannte sich Tobey zum Glauben der Bahai – der „stellt das Einssein der Menschheit in den Mittelpunkt, ohne die Welt in Gläubige und Ungläubige aufzuteilen.“ 

Dass alles mit allem zusammenhänge, ist eine Kernerfahrung, die auf vielen Tobey-Werken zu entdecken ist. Seine „white writings“ gleichen Erzählungen: Striche, Zeichen und Linien, die flächendeckend miteinander verbunden sind, aufschäumend und verwirbelt, vernetzt und über den Bildrand hinausweisend. Die Gemälde haben kein Zentrum und keine Zentralperspektive, sondern zeigen, dass alles und jedes eine Rolle und eine Bedeutung hat. Fachterminologisch gesprochen: „All over“ und „Non focus“.

„Das Schöne konnte ich nie verstehen“

Der Künstler selbst sagte einmal: „Meine Bilder gehören zu der Art, die es dem Betrachter nicht gestattet, sich auf irgendein Detail festzulegen und sich darauf auszuruhen. Wer mein Bild sieht, ist mit mir unterwegs und muss sich mitbewegen.“ Bei Tobey sei „keine Linie wichtiger als die andere“, schreibt Arnold Stadler, „und alle haben einen Neigungswinkel ins Universale.“ Das passt nur zu gut zur Grunderfahrung des Erzählers, dass jedes Leben erzählenswert sei.

Arnold Stadler Foto: Bücheratlas

„Das Schöne konnte ich nie verstehen“, räumt der Schriftsteller ein. „Ich habe es aber immer geliebt. Ihn auch.“ Mit Mark Tobeys „Glowing Fall“ (Glühender Herbst) fing im Jahre 1976 in Freiburg alles an. Für Arnold Stadler war es Liebe auf den ersten Blick. Seitdem ist er darauf aus, alles über Mark Tobey in Erfahrung zu bringen. Und am liebsten noch viel mehr.

„We are all waves oft the same sea“

Deshalb ist er selbstverständlich auch in den Geburtsort gereist. Doch erst beim dritten Versuch erreichte er Centerville: Beim ersten Mal kam eine Überschwemmung dazwischen, beim zweiten Mal hatte er seinen Führerschein für den Mietwagen in Europa vergessen. Ja, ein Roadmovie ist dieses Buch dann auch geworden – mit vielen Städten, Museen, Freunden und Förderern.

Einer der zentralen Sätze von Mark Tobey, der am Mississippi aufgewachsen ist, lautet: „We are all waves oft the same sea.“ Die Einsicht, dass wir alle Wellen desselben Meeres seien, wird von Arnold Stadler ein ums andere Mal wiedergeben. Wie ein Mantra beziehungsweise wie die Antwort der Gemeinde in einer Litanei. Auch eine Variante wird geboten: Wir sind alle Wellen zu demselben Meer hin.

Die bevorzugte Himmelsrichtung

Wie wichtig dem Autor dieser Satz ist, mag belegen, dass er ihn schon vor 20 Jahren in der Anthologie „Tohuwabohu“ hervorgehoben hat. Was wiederum daran erinnert, dass für Arnold Stadler Schreiben stets Weiterschreiben bedeutet. Und so zitiert er auch in „Mein Leben mit Mark“ mal beiläufig und mal ausdrücklich aus seinen eigenen Werken, gewährt Martin Heidegger und Ezra Pound ihre Auftritte und erinnert an Flugscham sowie seine bevorzugte Himmelsrichtung. Welche das ist? Die nach oben.

Einige Male schon hat sich Arnold Stadler zu Mark Tobey geäußert. Doch noch nie in dieser Intensität. Er tut es in seinem typischen Stil des Schweifens und des Sich-Verlierens, der Wiederholung und der Variation. Selbst ein Foto-Motiv mit Wellen (vom Mississippi?) taucht mehrfach auf, wenngleich mit jeweils leicht verändertem Bildschnitt.

Ausstellungen in Singen

Auf solch musikalisch-meditative Weise entsteht hier das Porträt eines Malers und das Selbstporträt eines Schriftstellers. Es ist ein lehrreiches und unterhaltsames Flanieren durch Kunstraum und Lebenszeit. All das in einem schön gestalteten und mit vielen Abbildungen ausgestatteten Band des Hanser-Verlags.

Dass hier die Neugier auf Mark Tobeys Werke geweckt wird, wie es sich der „Missionar“ Arnold Stadler gewiss erhofft, ist nahezu zwangsläufig. Und siehe: Der Weg ist so weit nicht. Anlässlich der Veröffentlichung des Buches findet aktuell eine Ausstellung im Kunstmuseum Singen statt, die den „Wegbereiter des us-amerikanischen Abstrakten Expressionismus und des europäischen Informel“ würdigt. Unter den rund 60 Bildern stammen mehrere aus der Privatsammlung Karin und Uwe Hollweg, die auch das Buch gefördert hat. Die Auswahl der Bilder stammt von: Arnold Stadler.  

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

findet sich HIER eine Besprechung von Arnold Stadlers Roman „Am siebten Tag flog ich zurück“.

Ausstellungen

Das Kunstmuseum Singen (Ekkehardstraße 10) zeigt: „Mark Tobey. Arnold Stadler unterwegs in Marks Welt“. Bis 19. Juni 2022. Dabei handelt es sich um eine Kooperation mit Artoma GmbH Kunst und Kulturmanagement, Hamburg. Die Ausstellung und das Buch zur Ausstellung werden gefördert durch die Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Bremen.

Weitere Werke von Mark Tobey sind ebenfalls in Singen in der Galerie Vayhinger (Schaffhauser Straße 22) zu sehen. Geöffnet Mi. – Sa. von 15 – 18 Uhr oder nach telefonischer Anmeldung. Bis 12. Juni 2022.

Arnold Stadler: „Mein Leben mit Mark – Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey“, Hanser, 172 Seiten, 30 Euro.

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