Rana aus Aleppo sucht die Freiheit in London: Layla AlAmmars beeindruckender Roman „Das Schweigen in mir“

Foto: Bücheratlas

Nein, die junge Frau aus Aleppo möchte sich nicht erinnern. Nicht an den Bruder, dessen toter Körper schlammbedeckt unter den Trümmern eines Hauses hervorgezogen wurde. Nicht an den Geliebten, der für die Freiheit des Denkens eintrat und dessen Schicksal ungewiss ist. Erst recht nicht an ihre monatelange Flucht quer durch Europa nach England, wo sie in der Anonymität einer seelenlosen Großstadt Zuflucht gesucht hat. Selbst ihren Namen – „Rana Halabi. Das bedeutet ‚aus Aleppo‘“ – werden wir erst auf der letzten Seite des Buches erfahren.

Die Kolumnen der „Sprachlosen“

„Das Schweigen in mir“ ist der zweite Roman von Layla AlAmmar. Die Journalistin und Schriftstellerin, Tochter einer US-amerikanischen Mutter und eines kuwaitischen Vaters, wuchs in Kuwait auf und lebt seit einigen Jahren in Großbritannien.

Ihre Ich-Erzählerin hat sich nach ihrer Flucht aus Syrien in einem anonymen Wohnblock eingemietet, zutiefst traumatisiert und unfähig zur Interaktion mit anderen Menschen. „Die Sprachlose“, so nennt sich die Mitt-Zwanzigerin in den Kolumnen, die sie eher widerwillig für eine englische Online-Zeitung schreibt. „Weißt du, wie falsch es ist, in den Räumen anderer Menschen herumzuschnüffen?“, fragt sie die Redakteurin des Magazins, als die sie drängt, mehr von sich preiszugeben. „So in etwa fühlen sich meine Erinnerungen an. Dieses Gefühl habe ich gegenüber meiner Vergangenheit. Ich habe bereits mehr davon hervorgeholt, als ich gedacht hätte. Wenn ich noch mehr gebe, wenn ich meinen Namen und meine gesamte Geschichte verwende… wer weiß, was all das Herumwühlen zutage fördert.“

„Haken in meinen Rippen“

Ihre Nachbarinnen und Nachbarn halten sie für gehörlos, weil sie kein Wort spricht. Nur in ihren Träumen findet sie ihre Stimme wieder. Dann schreit sie, bis sie schweißgebadet aufwacht, und fasst sich an die Brust, „als würde dort etwas haften, das seine Haken in meine Rippen gestoßen hat. Es verschwindet nie, kriecht einfach nur unter mein Bett und wartet auf die nächste Nacht“.

Tagsüber starrt sie stundenlang aus dem Fenster und beobachtet die Menschen in den gegenüberliegenden Blocks: den „Dad“ aus dem South Tower A, zweiter Stock, Wohnung drei, der ständig seine Code-Karte für die Eingangstür vergisst. Den „Mann-ohne-Licht“ aus dem East Tower, dritter Stock, Wohnung drei, der sie eines Tages auf der Straße ansprechen wird. Den alten Mann aus dem South Tower A, vierter Stock, Wohnung drei, der nie Besuch bekommt und fast an einem Schluck Suppe ersticken wird.

Erst nach und nach erfahren die Leserinnen und Leser etwas über die Vergangenheit der „Sprachlosen“. Ihre Heimatstadt Aleppo war vier Jahre lang das Zentrum heftiger Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellengruppen. Sie selbst gehörte einer Aktivistengruppe an. Inzwischen sind viele ihrer Freunde, Verwandten und Nachbarn tot. Ob ihre Eltern die Eroberung der Stadt durch Regierungstruppen 2016 überlebt haben oder ob ihnen die Flucht gelang – die „Sprachlose“ weiß es nicht.

Rechtsradikale stürmen Moschee

Auch in England fühlt sie sich nicht sicher. Die Moschee, die sie gelegentlich besucht, wird während eines Nachbarschaftsfestes von Rechtsradikalen überfallen, der Besitzer eines nahen Supermarkts, ein Pakistani, niedergestochen. Verzweifelt versucht sie in ihren Kolumnen, aufzuräumen mit den Vorurteilen gegenüber arabischstämmigen Menschen und Verständnis für die Nöte der Geflüchteten zu wecken. „Im Prinzip wollen wir alle dasselbe“, schreibt sie. „Freiheit, Glück, Sicherheit… Die Freiheit zu leben, wie wir leben wollen.“

Ganz langsam bricht der Panzer aus Schweigen und Nicht-Kommunikation auf, in den sich die „Sprachlose“ zurückgezogen hat. Ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft braucht ihre Hilfe. Adam, der „Mann-ohne-Licht“, will sie mitnehmen zu einer Demonstration. Sie solle nicht immer nur an sich denken, herrscht er sie an, als sie zunächst ablehnt. „Er sagt, man müsse seine Überzeugungen leben, verkörpern, wozu man sich entschieden hat.“ Worte, die ihre Zeit brauchen, ehe sie zu ihr durchdringen.

Psychogramm und Plädoyer

Nach Monaten des Schweigens unterzeichnet sie erstmals eine E-Mail mit ihrem Namen. Und – sie findet ihre Stimme und damit auch den Glauben an eine Zukunft in Freiheit wieder. Sie könne nicht ändern, was geschehen sei, erkennt Rana. „Was mir passiert ist, was es mich gekostet hat hierherzukommen.“ Doch sie weiß: Sie wird „irgendwie, auf irgendeine Weise“ ihren Weg gehen.  

Layla AlAmmars Roman ist weit mehr als das Psychogramm einer traumatisierten Frau, die unter Schmerzen zurückfindet ins Leben. „Das Schweigen in mir“ ist vor allem ein überzeugendes Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Toleranz im Umgang miteinander. Die Freiheit zu leben, wie wir leben wollen, ja, das wollen wir alle. Doch manche wie Rana Halabi, die aus Aleppo stammt, müssen dafür einen weiten Weg gehen.

Petra Pluwatsch

Layla AlAmmar: „Das Schweigen in mir“, dt. von Yasemin Dinçer, Goya, 334 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.

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