„Das ist ja großartig“: Das Poetica-Festival präsentiert kämpferische Positionen aus Australien und Haiti, China und Indien

Bereit zum finalen Lyrik-Vortrag: Sukirtharani und James Noël in der Kölner Zentralbibliothek. Foto: Bücheratlas

Das war ein programmatischer Auftakt: „Die Poetica erklärt hiermit ihre Solidarität mit der Stadtbibliothek Köln!“ So sagte es Christian Filips, der Kurator der achten Ausgabe des „Festivals für Weltliteratur“ in der Zentralbibliothek der Stadt Köln am Josef-Haubrich-Hof. Damit reagierte er auf die obskure Debatte, die renommierte Einrichtung nicht wie seit langem geplant zu sanieren, sondern in einer kleineren Immobilie unterzubringen. Die Solidaritätsadresse erfolgte genau an dem Tag, an dem die Stadtverwaltung nach vielen Protesten erklärte, dem Rat die Grundsanierung am bewährten Standort vorzuschlagen. Die Politik muss allerdings noch zustimmen.

Programmatisch war die Eröffnung von Christian Filips deshalb, weil sich die diesjährige Poetica mit Literatur befasst, die sich direkt oder indirekt politisch engagiert – fürs Klima, für Benachteiligte, für Minderheiten, für anderes mehr. Und wieder war der Zuspruch des Publikums enorm. Dabei sind die vier „working class poets“, wie der Kurator sie klassifizierte, hierzulande kaum bekannt und ihre Werke zumeist noch nicht einmal übersetzt. Aufschlussreich waren die Auftritte dennoch – oder vielleicht gerade deshalb. Und nicht zuletzt imponierten sie alle mit einer kraftvollen und stimmstarken Performance.   

Lionel Fogarty will Queensland umbenennen

Lionel Fogarty, ein Aborigine aus Australien, setzt sich vehement für die Kultur der indigenen Bevölkerung ein. Mittlerweile liegen 14 Gedichtbände des 1958 geborenen Autors vor, zuletzt erschien „Harvest Lingo“. In seinen Texten mischt er das Englische mit seiner Muttersprache. Das erschwert den Zugang zum Verständnis, aber ist Ausdruck des Bemühens, die Vormacht der englischen Sprache zu brechen. Lionel Fogarty wettert gegen die „Cops“ und betont stolz „I’m black“. Und den Bundesstaat Queensland, in dem er lebt, will er umbenennen lassen, um nicht auf diese Weise noch länger die einstige Kolonialmacht zu würdigen.

Es gelte vieles „zu rekonstruieren“, sagte er im Gespräch. Sein Eindruck ist, dass die jungen Australier – nicht nur die aus den indigenen Gruppen – sich mehr und mehr für die Kultur der Aborigines interessierten, für die Geschichten über Berge und Flüsse, die in Gemälden, Songs und Tänzen erzählt werden.

Lionel Fogarty Foto: Bücheratlas

Zheng Xiaoqiong schreibt gegen Hunger und Kälte

Die Chinesin Zheng Xiaoqiong, 1980 geboren, konnte aufgrund von Reiseschwierigkeiten nicht nach Köln kommen, war aber immerhin mit einer Videoeinspielung vertreten. Ihr erster Gedichtband „Das Buch der Arbeiterinnen“ ist 2012 erschienen, ihm folgten fünf weitere Veröffentlichungen. Sie schildert in ihren Versen ihre Erfahrungen als Wanderarbeiterin und gibt damit einen Einblick in die Situation von Frauen in der Industrie. Ausdrücklich bekennt sie sich dazu, als Dichterin über diejenigen zu schreiben, die unter „Hunger und Kälte“ leiden.

James Noël stürmt die Mauern

Der Haitianer James Noël wurde 1978 geboren und schreibt auf Französisch und Kreolisch. Zwar gebe es in seiner Heimat, in der die Gewalt ein täglicher Begleiter sei, auch einen Sprachenstreit. Er selbst allerdings lebe mit beiden recht gut zusammen: „Sie finden bei mir zueinander und lieben sich.“ Dem Publikum vertraute er an, wie er zum Schreiben gekommen sei. Als 14-Jähriger habe er eines Abends zu seiner Mutter gesagt, dass er Dichter werden wolle. „Da passierte ein großes Unglück, denn sie antwortete: Das ist ja großartig!“ Sein Lehrer habe ihn dann auch noch ermutigt. Der habe gefordert, er möge die Bücher nicht nur lesen, sondern essen. Das hat Früchte getragen. Auch in Deutschland. Für den Band „Was für ein Wunder“ erhielt James Noël  2020 zusammen mit der Übersetzerin Rike Bolte den „Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt“.

Ein Dichter sei für ihn derjenige, so sagte es James Noël, durch dessen Körper die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sichtbar werde: „Dann steht das Geheimnis plötzlich bloß und nackt da.“ Das „Geheimnis“, mit dem er sich seit längerem befasst und wohl noch lange befassen wird, ist das Monumentalwerk „La Migration des murs“. Ein „poetisches und philosophisches Pamphlet gegen den Bau von Mauern, die überall auf der Welt Zeugnisse der Abschottung sind“, wie es im Programmheft heißt. Eine dieser Mauern, so sagte es Moderator Christian Filips, entstehe gerade zwischen Haiti und der Dominkanischen Republik, die sich von den Armutsflüchtlingen abschotten will.

Der Dalit-Feminismus von Sukirtharani

Schließlich der Auftritt der Dichterin Sukirtharani, die 1972 in Indien geboren wurde und zur benachteiligten Gruppe der Dalit gehört. In ihren Gedichtbänden geißelt sie die Kastengesellschaft mit aller Schärfe: „Es gibt so viele Grausamkeiten im Namen des Kastensystems“, sagte sie. Was sie zum Vortrag bringe, seien nicht nur ihre Erfahrungen, sondern die Erfahrungen vieler unterdrückter Frauen in Indien.

Verblüffend ist, dass Sukirtharani ihre tamilischen Texte lächelnd und mit feinem Fingerspitzenspiel vorführt. Doch wenn man dann die deutsche Übersetzung hört, schlackern einem die Ohren aufgrund der stilistisch-inhaltlichen Heftigkeit. So schildert Sukirtharani in aller Deutlichkeit die Gruppenvergewaltigung junger Frauen. Zusätzlich zur Unfassbarkeit der Taten sei empörend, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unterschied mache, ob ein Mädchen aus der „upper class“ das Opfer sei oder etwa eines aus der Gruppe der Dalit. Sukirtharani fasst zusammen: „Der Feminismus schließt den Dalit-Feminismus nicht mit ein, aber der Dalit-Feminismus den Feminismus.“

Es war ein blickweitender Abend in der Zentralbibliothek. Auch ein langer Abend. Er erreichte locker den Zeitrahmen der Eröffnungsveranstaltung am Montag. Das lag auch an den notwendigen Übersetzungen, die erneut von Philipp Plessmann und Katharina Schmalenberg vorgetragen wurden. Aber dass es lohnend ist, sich die Zeit zu nehmen, steht außer Frage.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über die ersten drei Tage der Poetica 8 berichtet: über die Eröffnung am Montag (HIER), über Patti Smith am Dienstag (HIER) und über Logan February und Kim de l’Horizon am Mittwoch (HIER).

Weitere Texte über Poetica-Ausgaben der Vergangenheit finden sich leicht über die Suchmaske (Stichwort: Poetica).

Das Festival

„Poetica“ findet in diesem Jahr zum achten Mal in Köln statt. Das internationale Literaturfestival, das sich vor allem der Lyrik widmet, wird von der Universität zu Köln in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und kulturellen Institutionen der Stadt veranstaltet. Es lädt seit 2015 jeweils bis zu zehn Autorinnen und Autoren aus aller Welt ein. Kuratiert und moderiert wird das Festival von einem Autor bzw. einer Autorin. In diesem Jahr ist es Christian Filips. Zuvor hatten diese Aufgabe inne: Michael Krüger, Ales Steger, Monika Rinck, Yoko Tawada, Aris Fioretos, Jan Wagner und Uljana Wolf. Die Poetica wird finanziert durch die Universität zu Köln, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Kunststiftung NRW.

Die Mitwirkenden

der achten Ausgabe des Festivals, das unter dem Leitthema „Das chorische Ich“ steht, sind Christian Filips als Kurator sowie Daniela Danz (Deutschland), Logan February (Nigeria), Lionel Fogarty (Australien), Kim de l’Horizon (Schweiz), Kateryna Kalytko (Ukraine), Els Moors (Belgien), James Noël (Haiti), Patti Smith (USA), Sukirtharani (Indien) und – digital eingespielt – Zheng Xiaoqiong (China).

Die Gesamtleitung des Festivals liegt bei Günter Blamberger, die Dramaturgie bei Michaela Predeick. Das Festival läuft bis zum bis zum 22. April 2023.

Der Begleitband

zur „Poetica 8“ mit Beiträgen aller Teilnehmenden, herausgegeben von Christian Filips, Günter Blamberger und Michaela Predeick, erscheint im konkursbuch Verlag (176 Seiten, 14 Euro).

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