Patti Smith singt mit Kölner Chören auf der Poetica 8: Das Festival für Weltliteratur versammelt Stimmen gegen alle Übel dieser Welt

Die Teilnehmenden der Poetica 8 von links nach rechts: Lionel Fogarty, Kateryna Kalytko, Logan February, James Noel, Kim de l’Horizon, Christian Filips, Patti Smith, Daniela Danz, Els Moors und Sukirtharani. Foto: Bücheratlas

Ohne Leitthema geht es nicht. Diesmal hat sich die Poetica, das Kölner Festival für Weltliteratur, für „Das chorische Ich“ entschieden. Gemeint ist damit „das Sprechen im Namen“ von anderen. Es geht also um Dichterinnen und Dichter, wie es programmatisch heißt, „die in ihren Texten stellvertretend zu sprechen wagen – zum Schutz von Minderheiten, in ihrer Freiheit bedrohten Nationen, gefährdeter Tiere oder Pflanzen.“ Grob gesagt: politisch engagierte Literatur. Was das bedeutet, wurde bei der Eröffnung der achten Poetica in der Aula der Universität zu Köln so klar wie nur etwas klar werden kann.

„Ich bin am Limit“

Beim traditionellen Speeddating – bei dem die Mitwirkenden in einem Schnelldurchlauf präsentiert werden, dem dann eine individuelle und intensivere Auseinandersetzung im Laufe der Woche folgt – traten zunächst Lionel Fogarty aus Australien und Sukirtharani aus Indien an. Der Aborigine aus der Nähe von Brisbane in Queensland setzt sich für die indigene Bevölkerung des Kontinents und den Respekt vor der Natur ein, während die Kollegin aus der Gruppe der Dalit das indische Kastenwesen anklagt. Und noch einiges mehr. Das war ihrem ironisch-bitteren Gedichtvortrag zu entnehmen,  dessen Spektrum vom achtspurigen Autobahnausbau bis zu „Hindu-Nazis“ reichte.

Und so ging es Schlag auf Schlag, Text auf Text, „Hello“ und „See you later“. Daniela Danz, von der zuletzt der Band „Wildniß“ (Wallstein Verlag) erschienen ist, bot eine bangend-beschwörende Anrufung der Natur. James Noel aus Haiti fragte in die Runde, ob hierzulande überhaupt bekannt sei, welche Gräuel sich Tag für Tag in seiner Heimat ereignen. Und er las als Stimme einer Frau aus der von Banden „zerfressenen“ Hauptstadt Port-au-Prince: „Ich bin am Limit.“

„Meine Tasche mit einem Haufen klirrender Scherben“

Logan February aus Nigeria dichtet als nicht-binäre Person: „Ich weiß nicht, ob ich genug Namen habe, / um etwas anderes sein zu können als ich.“ Die Chinesin Zheng Xiaoqiong, nur via Video-Einspielung anwesend, spiegelt ihre Erfahrungen als ehemalige Wanderarbeiterin in der Lyrik. Els Moors aus Belgien, deren Lyrikband „kugelsichere dystopien“ soeben im Verlag Parasitenpresse erschienen ist, hat ein „Klimalied“ aus Slogans der Friday-for-Future-Bewegung collagiert. Kim de l’Horizon, im vergangenen Jahr für den Roman „Blutbuch“ (DuMont Buchverlag) mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, hatte ein – angeblich auf der Anreise im Zug verfasstes – Gedicht über eine Krefelder Hexenverbrennung anno 1492 mitgebracht.

Kateryna Kalytko aus der Ukraine erhielt einen besonderen intensiven Applaus. Sie sagte, es gebe nicht genügend Worte, um den „Genozid“ in ihrem Land zu beschreiben, den täglichen Mord an Zivilisten. Sie suche nach einer neuen Sprache, um laut und klar das Unrecht des Krieges zu benennen. Ihre Beziehung zur Heimat, so bekannte sie, empfinde sie „als so stark wie nie zuvor.“ Was ihr offensichtlich Mut macht, ist die Tatsache, dass weiterhin Texte geschrieben werden und weiterhin Bücher erscheinen. Texte wie diese, aus denen sie in Köln las: „Auf die Frage des Grenzpolizisten ‚Was führen Sie mit?‘ / öffne ich meine Tasche mit einem Haufen klirrender Scherben / und kann nicht erklären – was da eigentlich in Stücke brach. / Alle Wörter flossen heraus / in das weitgedehnte Winterlied.“

Blick in die vollbesetzte Aula der Universität zu Köln. Foto. Bücheratlas

„The People Have the Power“

Der Star des Abends war allerdings – ein Star. Patti Smith, eine Ikone der Rockmusik und ein Lyrikfan obendrein, hatte sich geduldig zwei Stunden lang auf einem Klappstuhl in der Aula niedergelassen, ehe sie zu ihrem Kurzauftritt auf die Bühne trat (dem am Dienstagabend eine Longversion folgen sollte). Sie sang, was sie bei jedem Auftritt singt und was das Publikum bei jedem Auftritt hören will: „The People Have the Power“ (und zwar: „to dream, to rule / To wrestle the world from fools“). Ein Gedicht trug sie auch noch vor, in dem sie ein Gebet an „Mother Nature“ richtete. Dass sie mit all dem „im Namen von“ anderen spreche, wollte sie freilich nicht so leichthin behaupten. Vielmehr habe sie als Künstlerin ein anderes Ziel: Sie möchte mit ihren Songs den Menschen dienen („serve the people“).

Keine Poetica-Eröffnung war bislang so kurzweilig arrangiert worden wie diese. Da wirkte sich aus, dass Kurator Christian Filips nicht nur als Lyriker tätig ist, sondern auch als Dramaturg und Regisseur. Dass es ihm gelungen ist, Patti Smith nach Köln zu locken, darf als feiner Coup gewertet werden.

Mit Pauke, Piano und Posaune

Ein weiterer Coup war es, dass die Veranstaltung einen Poetica-Festivalchor aufbieten konnte, zu dem sich der Chor der Universität zu Köln, der Oratorienchor Köln und der Rodenkirchener Kammerchor (musikalische Leitung: Joachim Geibel und Arndt Martin Henzelmann) zusammengeschlossen hatten. Nicht nur sang die Formation gemeinsam mit Patti Smith, was wohl in die Annalen der Gruppierungen eingehen dürfte. Auch gab es packende Intermezzi – unterstützt von Pauke, Piano und Posaune – mit Musik auf ein Gedicht von Carl Sandburg oder Variationen zu Brahms.

Der Abend werde nicht wieder dreieinhalb Stunden dauern, hatte Unirektor Axel Freimuth zur Begrüßung gesagt. Dass er Wort hielt, lag auch daran, dass er diesmal der einzige offizielle Redner war. Eine gute Entscheidung des Poetica-Teams um Günter Blamberger und Michaela Predeick. Mit 150 Minuten ohne Pause war der Abend dennoch lang. Aber alles andere als langweilig.  

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über die Poetica bereits in der Vergangenheit berichtet – unter anderem HIER über die Eröffnung im Jahr 2022.

Und von Patti Smith war auf dem Blog sowieso schon einige Male die Rede – zuletzt HIER anlässlich ihres Konzerts 2022 in Köln.

Das Festival

Die „Poetica“ findet in diesem Jahr zum achten Mal in Köln statt. Das internationale Literaturfestival, das sich vor allem der Lyrik widmet, wird von der Universität zu Köln in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und kulturellen Institutionen der Stadt veranstaltet. Es lädt seit 2015 jeweils bis zu zehn Autorinnen und Autoren aus aller Welt ein. Kuratiert und moderiert wird das Festival von einem Autor bzw. einer Autorin. Bisher hatten diese Aufgabe inne: Michael Krüger, Ales Steger, Monika Rinck, Yoko Tawada, Aris Fioretos, Jan Wagner und Uljana Wolf. Die Poetica wird finanziert durch die Universität zu Köln, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Kunststiftung NRW.

Die Mitwirkenden

der achten Ausgabe des Festivals, das unter dem Leitthema „Das chorische Ich“ steht, sind Christian Filips als Kurator sowie Daniela Danz (Deutschland), Logan February (Nigeria), Lionel Fogarty (Australien), Kim de l’Horizon (Schweiz), Kateryna Kalytko (Ukraine), Els Moors (Belgien), James Noël (Haiti), Patti Smith (USA), Sukirtharani (Indien) und – digital eingespielt – Zheng Xiaoqiong (China). Die deutschen Übersetzungen lasen Philipp Plessmann und Katharina Schmalenberg. 

Die Gesamtleitung des Festivals liegt bei Günter Blamberger, die Dramaturgie bei Michaela Predeick. Das Festival läuft bis zum bis zum 22. April 2023. Das komplette Programm findet sich HIER .

Der Begleitband

zur „Poetica 8“ mit Beiträgen aller Teilnehmenden, herausgegeben von Christian Filips, Günter Blamberger und Michaela Predeick, erscheint im konkursbuch Verlag (176 Seiten, 14 Euro).

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