„Ich weiß recht gut, dass ich Etwas bin“: Jan Philipp Reemtsmas große Biographie „Christoph Martin Wieland – Die Erfindung der modernen deutschen Literatur“

Christoph Martin Wieland als lebensgroßer Scherenschnitt in einer Ausstellung, die im Jahr 2022 im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zu sehen war. Einen Bericht darüber gibt es HIER. Foto: Bücheratlas

Wer kennt denn noch Christoph Martin Wieland? Gar wer hat seine Werke je gelesen? Der Unterschied zwischen dem Ansehen des Schriftstellers zu seinen Lebzeiten und in unserer Gegenwart ist atemberaubend. Nicht nur war Wieland der Begründer der „Weimarer Klassik“, also des Intellektuellen-Zirkels um Goethe, Schiller, Herder und anderen mehr in der kleinen Residenzstadt an der Ilm. Auch hat er der deutschen Literatur den Weg in die Moderne geebnet. Wielands „singuläres“ Werk „wieder lesen zu lernen“, das ist das ambitionierte Ziel der Biografie, die Jan Philipp Reemtsma bei C. H. Beck vorlegt. Es ist eine in mancherlei Hinsicht staunenswerte Veröffentlichung.

In einem „an der Sonne modernden stinckenden Reichsstädtchen“

Christoph Martin Wieland wurde am 5. September 1733 in Oberholzheim bei Biberach geboren, einem – so seine Worte – „an der Sonne modernden stinckenden Reichsstädtchen“, dessen Bewohner „travestierte Hottentotten“ seien, „die mir noch Ehre anzuthun glauben, wenn sie mich für ihres gleichen halten.“ Aber die schwäbische Küche schätzte er doch sehr. Und in Weimar, wohin er 1772 gezogen war, ist er am 20. Januar 1813 gestorben. Dazwischen? Nichts als Dichtung und Wahrheit.

Wieland selbst wusste, was er von sich zu halten hatte. Im Jahre 1808 schreibt er, dem Eitelkeit nicht fremd gewesen sein soll, in einem Brief: „Ich weiß recht gut, dass ich Etwas bin, und, unter uns gesagt, ich bin sogar überzeugt, dass ich, da wo ich stehe, ganz allein stehe und Niemand unter den Völkern mit mir ist noch war.“ Damit zielt er allerdings „nur“ auf seine Rolle als Wegbereiter. Denn sogleich fügt er an, worin ihm andere über sind: „In dem Sinn worin Shakespeare, Klopstock, Goethe, Schiller Dichter, und Dichter von der ersten Größe, sind, kommt mir dieser Name keineswegs zu: dazu habe ich weder Genie noch Talent, weder Tiefe noch Energie, weder anschauende Kenntnis der wirklichen Welt, noch Reichtum, Lebendigkeit und Fülle der Imagination genug, wiewohl es mir an einem gewissen Grade von allem diesen nie gefehlt haben mag.“

Erster deutscher Shakespeare-Übersetzer

Trotz dieser Selbstbescheidung: Ein Großer war er auf jeden Fall. Die moderne deutsche Literatur werde von zwei Autoren erfunden, schreibt Reemtsma, nämlich von Gotthold Ephraim Lessing und eben von Wieland. Dessen Name stehe für den Roman, für Versroman und Verserzählung, für die deutschsprachige Oper (mit dem Libretto zur „Alceste“), den politischen Journalismus (in seiner Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“) und den Übersetzungen von Shakespeare, Horaz, Cicero oder dem „unübersetzlichen“ Aristophanes. (Der Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis wird seit 1979 in Biberach verliehen.)

Wielands Shakespeare-Ausgaben seien wesentlich für die Modernisierung der deutschen Literatur gewesen, meint Reemtsma. Die Werke des Engländers imponierten und inspirierten dadurch, dass sie keinem Regelkanon folgten und eine neue Tiefe der Weltdurchdringung erreichten. Wieland führte in seinen Übersetzungen zahlreiche Begriffe ein, die uns heute geläufig sind – von „Abschied nehmen“ bis „Wortbrecher“. Das noch aus der Abteilung Alltag: Nach Reemtsmas Berechnungen hat Wieland an den Shakespeare-Übersetzungen mehr verdient als an seinen eigenen Werken.

Christoph Martin Wieland schrieb das Libretto zur Oper „Alceste“ von Anton Schweitzer, die 1773 in Weimar uraufgeführt wurde. Sie gilt – trotz vorangegangener Versuche – als Anbeginn der deutschen Operntradition. Die „Bravour Arie“ war 2022 im Goethe- und Schiller-Archiv ausgestellt.   Foto: Bücheratlas

Das Deutsche kann auch Lyrik

Weiter habe Wieland gezeigt, dass sich das Deutsche entgegen landläufiger Meinung durchaus für die Poesie eigne. Es muss nicht immer Französisch oder Italienisch sein. Reemtsma meint, Wieland habe Verse gereimt „wie ein Zauberkünstler“.

Von den vielen Wieland-Werken ist ausführlich die Rede. Weniges bleibt unbeleuchtet. Den ersten Schwerpunkt der frühen Jahre bilden die „Komischen Erzählungen“, über die es heißt, sie seien „heiter erzählt“. Jedoch: „Uns skandalisieren die Pikanterien der Geschichten nicht mehr.“ Dann gleich danach die „Geschichte des Agathon“ (1766/67). Lessing hielt das Werk für den „ersten Roman für Leser von klassischem Geschmack“. Reemtsma sieht es ähnlich: Mit dem „Agathon“, sagt er, „beginnt in Deutschland der Roman eine allgemein anerkannte literarische Gattung zu sein.“

Goethe und Wieland „konnten einander nicht recht fassen“

Das große Spätwerk ist der Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. Nach Reemtsmas Einschätzung – dies für alle, die einen Lese-Einstieg suchen – handelt es sich dabei um das Hauptwerk (wenngleich einst der Versroman „Oberon“ als Spitzentitel galt). Der Biograf fragt recht euphorisch: „Wann hat je ein Roman so entspannt begonnen?“

Staunend nimmt man den Reichtum des Wieland‘schen Werks zur Kenntnis. Aber ebenso die potzblitzende Eigenart seines Schöpfers. Jan Philipp Reemtsma spricht von einem „undramatischen Leben“. Tatsächlich? Es kommt wie immer auf den Maßstab an. Was da an Stoffen und Stationen geboten wird, vom jugendlichen Ringen um eine Fixierung im Leben bis zur spätzeitlichen Begegnung mit Napoleon, dem damals mächtigsten Herrscher Europas, ist schon aller Ehren wert. Zwischendrin war Wieland Prinzenerzieher in Weimar, Vater von 14 Kindern (von denen fünf frühzeitig starben), zeitweiliger Gutsbesitzer in Oßmannstedt und Gesprächspartner von Goethe: Sie „haben einander immer irritiert. Sie konnten einander nicht recht fassen, nicht verehrend beiseite stellen, nicht schlankweg abtun.“

Von der Pocken-Impfung bis zur Pressefreiheit

Es ist ein breites Panorama. Von der Pocken-Impfung – Wieland ist im Zweifel dafür – bis zum Plädoyer für die Pressefreiheit. Und sein Bekenntnis zum freien Diskurs war nicht nur ein Lippenbekenntnis: „Der Himmel verhüte, dass ich von irgendeinem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meinungen nicht überzeugt ist; oder dass ich jemals fähig werde, jemandem meinen Beifall deswegen zu versagen, weil er nicht immer meiner Meinung ist!“

Der Biograf verweist einige Male auf die Forschungen seiner Vorgänger, auf Johann Gottfried Grubers „C. M. Wielands Leben“ von 1827 und Friedrich Sengles „Wieland“ von 1949. Und mehrfach zitiert er Arno Schmidt, dessen Werke er verehrt und deren Pflege er betreibt. Schmidt stellte fest: „Unter uns Deutschen hat Keiner so tief über die große Prosaform nachgedacht, Keiner so kühn damit experimentiert, Keiner so nachdenkliche Muster aufgestellt, wie Christoph Martin Wieland.“

„Doch dazu später“

Aber es steht außer Frage, dass Reemtsma einen ganz eigenen Zugang zum Werk sucht und findet. Er pflügt mit Akribie durch die Schriften, ja, zuweilen wünschte man sich, er würde die eine oder andere Erkundung abkürzen, damit im Wust der Details das Großeganze nicht verloren geht. Doch zugleich versteht man den Antrieb des Liebhabers, möglichst viele Preziosen aufzuzeigen.

Es ist ein eindrucksvolles Buch. Nicht zuletzt stilistisch. Reemtsma formuliert mal launig, mal gelahrt, mal betulich, mal flüssig. Auch kreuz und quer austreibend, so dass er mehr als einmal, viel mehr als einmal, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sehr viel mehr als einmal auf Formulierungen zurückgreift wie „doch dazu später“ beziehungsweise „wir gehen zurück“. Man könnte eine poetische Sammlung anlegen mit den einschlägigen Formulierungen. Aber wir sind ja nicht Ror Wolf.

Liebe zum Latein

Nicht gar so üppig geriete ein Brevier mit den lateinischen Vokabeln, die den Text garnieren. Dennoch ist deutlich, dass Reemtsma von der Lateinliebe seines Protagonisten inspiriert ist, der sich dieser schon im Alter von vier Jahren hingegeben hat. Ein „nota bene“ wird mehrfach verwendet, das „sive“ an Stelle von „beziehungsweise“ fällt ebenfalls auf, hingegen treten „ad ipsum“, „rebus sic stantibus“ oder „coincidentia oppositorum“ lediglich als Einzelgänger auf. Und jetzt nur noch das: „Wer die Briefe, die diese Liebe dokumentieren, liest, wird seine Beteuerungen überspannt finden, aber cave!“

Eigenwillig ist vieles. Vokabeln wie „oblatenhaft“ und „Hahn-im-Korb-schaft“ sind es. Auch Wendungen wie „Bertolt Brecht schreibt irgendwo“ und „Man kennt das (wenn man es kennt)“. Zudem die gelegentliche Ansprache an die „Leserin“ (unter Verzicht auf den „Leser“). Ebenso Verweise auf Johannes Mario Simmel und Friedrich Torberg, auf Quizmaster und Beatles, Humanistisches Gymnasium und Illustrierten-Horoskope – alles Phänomene aus der alten Bundesrepublik, aus den 1960er- und 1970er Jahren.

„Wen so etwas nicht entzückt, dem ist nicht zu helfen“

Erfrischend ist Reemtsmas Neigung zur klaren Positionierung. Im Negativen wie im Positiven. Das Liebeswerben des jugendlichen Wieland um seine drei Jahre ältere Cousine Sophie Gutermann, die spätere Dichterin Sophie von La Roche, hält er für derart befremdlich, „dass man sagen möchte: Er ist nicht ganz bei Trost.“ Und zu einer Passage im Roman „Don Sylvio“ stellt er alternativlos fest: „Wen so etwas nicht entzückt, dem ist nicht zu helfen.“

Wir wollen es nicht leugnen: Je länger, je lieber überlässt man sich diesem ganz und gar nicht zeitgemäßen Ton. Bald schon stolpert man allenfalls noch über einen Satz wie diesen: „Die Idee, Moralphilosophie als etwas zu präsentieren, das über Grund-Sätze und Ableitungen seine Triftigkeit ausweist, ist Wieland contra intellectum et contre coeur.“ Fest steht: Wielands „konsequente Arbeit an der Modernisierung der deutschen Sprache“ findet bei Reemtsma keine Fortschreibung. 

Das Wielandgut in Oßmannstedt

Nicht auf dem Cover, aber auf dem Deckblatt der Biographie wird die Zusammenarbeit mit Fanny Esterházy erwähnt. Die Arno-Schmidt-Expertin hat im vergangenen Jahr das Buch „Wielandgut Oßmannstedt“ im Deutschen Kunstverlag veröffentlicht. Anlass dafür war die neue Dauerausstellung, um die sich wiederum Jan Philipp Reemtsma als Fachmann und Mäzen verdient gemacht.

Nun setzt er Christoph Martin Wieland ein weiteres würdiges Denkmal. Ob diese Biografie eine kleine Wieland-Renaissance auslösen wird, wird sich weisen. Aber um eine Großtat handelt es sich allemal.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir die Wieland-Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar HIER vorgestellt.

Und auf dem Blog

von Birgit Böllinger findet sich ein Besuch im Wieland Museum Biberach – und zwar HIER.

Jan Philipp Reemtsma: „Christoph Martin Wieland – Die Erfindung der modernen deutschen Literatur“, C. H. Beck, 704 Seiten, 38 Euro.

6 Gedanken zu “„Ich weiß recht gut, dass ich Etwas bin“: Jan Philipp Reemtsmas große Biographie „Christoph Martin Wieland – Die Erfindung der modernen deutschen Literatur“

  1. Ich habe tatsächlich selbst von Wieland noch nichts gelesen. Gar nichts, wie jetzt, nach dem Lesen des Beitrages feststelle. Danke für die ausführliche Besprechung – die Biographie werde ich wahrscheinlich nicht lesen, aber Wieland, warum eigentlich nicht … Viele Grüße!

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  2. Ich bin zwar fast in der Nachbarschaft von Wieland, also auch in diesem stinkenden, modernden Umfeld, geboren, aber er war zu meiner Zeit mit keiner Silbe Schulstoff – da also schon das große Vergessen. Inzwischen erinnert man sich in Biberach doch wieder des ungeliebten Sohnes, im ehemaligen Gartenhaus ist eine kleine Gedenkstätte. Aber er ist in der Tat – neben Jean Paul – einer der vergessenen Giganten. Die Biographie werde ich mir flugs besorgen!

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