
Owen Callahan ist ein Landei. Geboren in Kentucky, aufgewachsen in Kentucky, zurückgekehrt nach Kentucky. Nachdem er seinen Job in Colorado verloren hat, ist er – kurz vor den amerikanischen Wahlen 2016 – bei Pop, seinem Großvater, in Louisville untergekrochen und arbeitet als Grünpfleger auf dem Campus des örtlichen Colleges. Dafür erhält er den Mindestlohn und darf kostenlos an einem Schreibseminar teilnehmen.
Owen trifft Alma
Pop hat ihm vorübergehend seinen Keller zur Verfügung gestellt, wo der Endzwanziger zwischen Gerümpel und aussortiertem Krimskrams auf einem durchgelegenen Sofa schläft. Hinter ihm liegt eine mehrjährige Drogenkarriere, vor ihm liegt ein Leben ohne Ehrgeiz und erkennbare Ziele. Halbherzig versucht er sich als Schriftsteller, ist bislang aber nicht über ein paar Notizen zu einem möglichen Roman hinausgekommen. Bis Alma in sein Leben tritt. Alma Hadzic aus Washington D.C., Arzttochter und aufstrebende Autorin mit bosnischen Wurzeln.
Owen verliebt sich in die junge Frau mit den struwweligen Haaren und dem exzentrischen Modegeschmack. „Ich konnte nicht sagen, was genau an ihr mich anzog“, schildert er ihre erste Begegnung auf einer Studentenparty. „Vielleicht ein stummes Einverständnis, egal ob wirklich vorhanden oder eingebildet, dass wir aus demselben Holz geschnitzt waren. Aber vielleicht war das auch ganz egal. Sie war eine hübsche Frau auf einer Party, die sich offenbar gern mit mir unterhielt.“ Beharrlich umwirbt er sie, obwohl sie mit Casey zusammen ist, einem reichen Schnösel aus Owens Schreibseminar. Doch Casey entpuppt sich bald als eifersüchtiger Macho, und so kommen das Upper-Class-Girl und das Landei schließlich zusammen.
„Make America great again“
Lee Coles großartigen Debütroman „Kentucky“ als bloße Liebesgeschichte abzutun, wäre indes zu kurz gegriffen. Der Autor, 1990 in der Kleinstadt Paducah in Kentucky geboren, erweist sich als scharfsinniger Chronist der amerikanischen Provinz mit all ihrer Rückständigkeit, ihrer Enge und moralinsauren Muffigkeit. Lee Coles Kentucky ist ein Land in Agonie, dessen Bewohnerinnen und Bewohner in den Kirchen der Baptisten oder aber im Drogenrausch auf Erlösung hoffen. Die Realität besteht aus Armut und Arbeitslosigkeit. „Leere Felder. Mit Graffiti besprühte Sperrholzplatten vor den Fenstern leerstehender Kirchen. Bruchbuden und Trailer, in denen Fremde mal gelebt hatten“ – so beschreibt Owen das Hinterland seines Heimatstaates.
In den Vorgärten – und auch im Fenster von Onkel Cort – stehen Schilder mit der Parole „Make America great again“. Hier wird Donald Trump unterstützt, der starke Mann aus Florida, der tausende neue Arbeitsplätze verspricht und ein Bollwerk gegen alle Fremden errichten will, die ins Land drängen. Schließlich gehe es an der Grenze zu wie in einem Taubenschlag. „Auf einer Ebene mit Lincoln“, tönt Owens Stiefvater Greg, wenn die Rede auf den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner kommt. „Man kann über ihn sagen, was man will, aber nicht, dass er kein Patriot ist.“
„Schleudertrauma der Gefühle“
Für Owen sind Sprüche wie diese schwer zu ertragen. Selten nur besucht er die Eltern, die sich vor Jahren getrennt haben und längst mit neuen Partnern zusammenleben. Jedes Mal raube ihm das schlechte Gewissen fast den Atem, sagt er über das emotionale Chaos, das die gelegentlichen Stippvisiten in ihm auslösen – „ein wahres Schleudertrauma der Gefühle, ein wildes Hin und Her aus Abscheu und Reue, Mitgefühl und Zynismus“.
Melber, die Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, ist ihm fremd geworden. Dort, erzählt er Alma, ginge ein brennender Heuballen bereits als Unterhaltung durch. „Da gibt es kaum mehr zu sehen als ein Stoppschild und ein Postamt.“ Molly Miller, das erste Mädchen, das er mit 15 Jahren geküsst hat, ist „an einer Überdosis Fentanyl auf dem Klo der Bücherei von Paducah“ gestorben. Der Vater eines Freundes hat sich am Garagentor erhängt. Sein Freund Josh Griggs hat eine Weile im Gefängnis gesessen. Auch zu ihm ist der Kontakt abgerissen. Nur der Vater lebt noch in Melber, zusammen mit Bonnie, seiner zweiten Frau.
„Wie das Liebespaar in einem Roman“
Der Kontrast zu Almas großbürgerlichen Eltern könnte kaum größer sein. „Sie denken, ich sei nicht gut genug für ihre Tochter“, erzählt Owen dem Großvater nach seiner Rückkehr von einem ersten Besuch in Washington D.C. Auch Alma reagiert zunehmend verschreckt, wenn der Freund ihr von seiner Drogenvergangenheit erzählt, von den Tanten, den Cousins und den Onkeln, die Junkies oder Alkoholiker geworden sind. Dass die Beziehung schließlich scheitert, hat jedoch andere Gründe, die hier nicht verraten werden sollen. „Ich hatte mir eine Story für uns gewünscht, hatte gehofft, wir wären wie das Liebespaar in einem Roman, das sich in schweren Zeiten kennenlernt, für seine Beziehung kämpft und von den Zeitläuften davongerissen wird“, schreibt Owen kurz nach der Trennung. „Doch an uns beiden war nichts grandios. Wir waren bloß zwei Menschlein, die inmitten eines großen Durcheinanders versuchten, einander zu lieben. Jetzt ging es zu Ende. Ohne Tusch. Ohne Trara.“
Lee Cole, in seiner Heimat zurecht als literarische Entdeckung des Jahres 2022 gefeiert, ist mit „Kentucky“ eine anrührende Mischung aus Liebesgeschichte und modernem Entwicklungsroman gelungen. Dafür hat er einen so frischen und jungen Ton gefunden, dass die Lektüre ein einziges Lesevergnügen ist. Ein vielversprechender Start in eine hoffentlich große Schriftstellerkarriere.
Petra Pluwatsch
Lee Cole: „Kentucky“, dt. von Jan Schönherr, Rowohlt, 414 Seiten, 25 Euro. E-Book: 20 Euro.
