
Das war doch alles eben erst. Das Jahr 1966 mit Peter Handkes spektakulärem Dreiklang: Mit dem Debütroman „Die Hornissen“, der Uraufführung der „Publikumsbeschimpfung“ durch Claus Peymann und der Schmährede auf die „Gruppe 47“, der er bei ihrer vorletzten Tagung in Princeton „Beschreibungsimpotenz“ vorwarf. Es folgte eine bis heute wuchernde Liste an Romanen, Stücken, Gedichten, Hörspielen, Essays und Journalen. Zudem das trotzig-abstoßende Sympathisieren mit serbischen Nationalisten und der deswegen politisch umstrittene Literaturnobelpreis von 2019. Und siehe da: Schon ist Peter Handke 80 Jahre alt.
Das Jahr der literarischen Wende
Zur Feier des Tages veröffentlicht der Suhrkamp Verlag, dem Peter Handke von seinem ersten Buch an verbunden ist, ein Notizbuch aus dem Jahre 1978: „Die Zeit und die Räume“. Solche Notizbücher führt der Autor seit November 1975. Er trägt sie am liebsten, wie er einmal sagte, in seiner linken Hosentasche. Unterwegs füllt er die Notizbücher mit Einfällen, Beobachtungen, Lesefrüchten.
Einige von ihnen sind in gekürzter Form als „Journale“ veröffentlicht worden. Doch nun wird erstmals eines vollständig transkribiert – und weil der Autor manche Zeichnungen zwischen seine Aufzeichnungen gepackt hat, werden die entsprechenden Seiten im Bildteil präsentiert.
„Das Festhalten des Übersehenen“
Warum es ausgerechnet dieses Notizbuch sein soll? Immerhin stehen weit über 200 Kladden, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden, zur Auswahl. Die Herausgeber Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor geben im Nachwort einen Hinweis: 1978 war für den Peter Handke ein besonderes Jahr. Damals nämlich vollzog der Autor eine literarische „Wende“.
Zunächst sei Peter Handke angetreten, um „der Sprache die Phrasen auszutreiben“ – unter anderem mit der erwähnten „Publikumsbeschimpfung“. Doch in der Schreibkrise von 1978, als er an der Erzählung „Langsame Heimkehr“ laborierte, habe er „das Klassische“ entdeckt. Zur neuen Poetik gehörte das „Festhalten des Übersehenen“. Er selbst geht darauf im frisch aufgelegten Notizbuch ein. Da möchte er endlich der „berichtende und teilnehmende Dritte“ werden und nennt als Idealzustand und Lebensphilosophie „Das erzählende Beschreiben“.
Von Kärnten nach Venedig
Dazu gehört ein geradezu inbrünstiges Betrachten und Bedenken. Peter Handke fokussiert sich auf Aspekte, die gemeinhin ignoriert werden. So banal manche Einträge auf den ersten Blick wirken, so zügig können sie das Kopfkino starten: „Eine Jacke baumelt an einem kleinen Baum“. Oder: „Eine Frau, mit weiten Schritten durchs Gras gehend, rauchend, eine Hand in der tiefen Tasche ihres Kleids“. So könnte ein Film, ein Drama, ein Roman beginnen. Oder enden.
Den Rahmen dieser Notizen bildet eine Reise, die Peter Handke von seiner Geburtsregion Kärnten durch das geliebte Slowenien (die Mutter ist eine Kärntner Slowenin) nach Triest und Venedig führt. Nicht selten legte er die Etappen zu Fuß zurück. Denn die Entschleunigung befördert die Beobachtungsintensität. Allerdings darf man hier keinen Reisebericht erwarten. Ortshinweise sind rar. Deshalb ist es gut, dass die Herausgeber eine Karte mit der (mutmaßlich mühsam rekonstruierten) Route beigefügt haben.
Lauter offenstehende Türen
Einiges von dem, was Peter Handke in diesem Heft festgehalten hat, scheint später auf in Veröffentlichungen wie „Langsame Heimkehr“ und „Die Wiederholung“. Dabei sind die Notate in der Regel kürzer als eine durchschnittliche Twitter-Nachricht. Einzeiler und Zweizeiler zum Detail und zum Ganzen des geistig-topographischen Raums. Sätze meist ohne abschließenden Punkt
Man kann den Band aufschlagen, wo man will, um sich eine kleine oder größere Dosis Handke zu gönnen. „Die Zeit und die Räume“ besteht aus lauter offenstehenden Türen, durch die man hineinschlüpfen kann. Und schon ist man drin im „schönen Durcheinander“, von dem der Autor selbst einmal gesprochen hat.

„Für heute ist unsere Beziehung aus“
Es ist wie ein kleines Lotteriespiel. Mal zieht man das ernste Los, mal das lustige: „Für heute ist unsere Beziehung aus.“ Und wenn manches Los unverständlich klingt, hat man nicht zwingend eine Niete gezogen: „die falsche Weite der fremden Länder“. Das Private kommt häufig vor: „Nichts entbehrend, aber auch nicht zufrieden (Ein Tag)“. Das Gesellschaftspolitische hingegen muss man suchen: „Deutschland: wenn nicht Miesheit der Kollektivität, dann die Sentimentalität der Vereinzelten“.
Gegen Ende dieses Notizbuches steht dann auch noch dieser Satz, der zu einem 80. Geburtstag zu passen scheint. Er mag sich auf den Autor selbst beziehen, oder er mag ihn aufgeschnappt haben. Der Satz lautet: „Und am Ende: ‚Ich habe viel gesehen.‘“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
findet sich eine Vorstellung des Bandes „Das stehende Jetzt – Die Notizbücher von Peter Handke“ aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach – und zwar HIER. Darin führt Ulrich von Bülow ein Gespräch mit Peter Handke über eben diese Notizbücher.
Die Biografie „Meister der Dämmerung – Peter Handke“ von Malte Herwig haben wir HIER vorgestellt. Nicht zuletzt macht der Autor bekannt mit der Persönlichkeit des Autors, von dem er unter anderem vernimmt: „Jetzt hör auf, diesen Scheißdreck zu referieren.“
Peter Handke: „Die Zeit und die Räume – Notizbuch 24. April – 26. August 1978“, hrsg. von Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor, Suhrkamp, 312 Seiten, 34 Euro. E-Book: 29,99 Euro.
