
Was die Bauten von Jean Nouvel verbindet, ist die Tatsache, dass diese auf den ersten Blick wenig verbindet. Der große Architekt, 1945 in Fumel im Südwesten Frankreichs geboren und 2008 mit dem Pritzker-Preis geehrt, betont gerne, dass er für jede Aufgabe eine individuelle Lösung suche. Was das beuten soll? Einerseits imponiert am Pariser Seine-Ufer das 1987 vollendete Institut du Monde Arabe, das Nouvel den internationalen Durchbruch bescherte, mit einer unübersehbar markanten Fassade aus orientalisch anmutenden Ornamenten. Andererseits scheint das Musée du Quai Branly (2006), nur knapp fünf Kilometer flussabwärts gelegen, in einem üppigen Garten zu verschwinden.
Nationalmuseum von Katar als Wüstenrose
Die faszinierende Vielfalt des architektonischen Werks lässt sich nun in dem monumentalen Band „Jean Nouvel by Jean Nouvel“ erkunden. Dabei handelt es sich um eine aktualisierte und bis ins Jahr 2022 fortgeschriebene Edition aus dem Jahre 2008, an der Jean Nouvel selbst mitgewirkt hat. Die Neuausgabe bestätigt die enorme Produktivität des Baumeisters und seines Büros: In der Zwischenzeit sind mehr als 25 neue Projekte hinzugekommen.
Zu den auffälligsten Schöpfungen der jüngsten Vergangenheit zählt das Nationalmuseum von Katar (2019). In der Hauptstadt Doha ist es einer Wüstenrose nachgebildet. Beim Vorbild handelt es sich um ein tafelartiges Kristall aus Gips, also eine Naturschönheit ganz ohne Duft und Dornen, das rosettenartig aufblüht. Die überdimensionalen Blätter, deren feine Zeichnung an die Segel der Oper von Sydney erinnern, sind die großzügig Schatten spendenden Dächer für das Leben in der Wüste.

„Zwischen Brutalität und Raffinement“
Philip Jodidio hat auch diesen Architektur-Band aus dem Taschen Verlag herausgegeben. Seiner Einschätzung zufolge nutzt Jean Nouvel „ein reiches Architektur-Vokabular“ und navigiert dabei „zwischen den Extremen von Brutalität und Raffinement“. Er balanciere „auf der dünnen Linie zwischen kraftvoller Geste und funktionalem Design“.
Dass Jean Nouvel dabei kaum einmal vom Wege abkommt, sagt Jodidio nicht ausdrücklich. Aber das entnehmen wir den jeweiligen Kurzbeiträgen zu den Bauten. Eingeleitet werden die Textpassagen in vielen Fällen von Jean Nouvel selbst. Dabei kann der Herausgeber oft auf Beiträge zurückgreifen, die der Architekt zur Vorstellung seiner Entwürfe formuliert hat. Vereinzelt gibt es auch kritische Anmerkungen. So merkt Jodidio an, dass die Fassade des Institut du Monde Arabe, deren Membrane auf Lichteinfall reagieren sollten, „nie richtig funktioniert hat“.
Aufhebung der Grenze zwischen Innen und Außen
Der heiße Kern des Bandes ist allerdings der wunderbare Bilderbogen. Er lädt ein zu einer Begehung von herausragender Architektur unserer Zeit. Auffallend ist dabei, dass es sich nicht nur um gleichsam „perfekte“ Aufnahmen handelt, die das jeweilige Nouvel-Bauwerk hyperscharf und hyperschön in Szene setzen. Die gibt es gewiss. Aber es finden sich eben auch verwischte oder verspiegelte Abbildungen, solche mit Lichtreflexionen und Schlagschatten. Die Aufhebung der Grenzen zwischen dem Inneren und dem Äußeren gehört häufig zum Konzept des Architekten. Sie entsprechen der Neigung des Architekten zur Irritation, die für Aufmerksamkeit sorgt. So deuten wir auch den steten Wechsel zwischen mattierten und hochglänzenden Buchpartien.
Der englisch-französische Band – eine deutsche Version ist diesmal nicht im Angebot – präsentiert nicht nur Gebautes, sondern auch Geplantes. Das am heftigsten himmelstürmende Projekt in dieser Abteilung ist der „Tour Sans Fins“ für La Défense in Paris: Er sollte 420 Meter in die Höhe schnellen – in einer Weltmetropole, die nicht berühmt ist für ihre Hochhäuser. Dieser Turmbau zu Paris wurde nicht realisiert.
Dauerfrost in Barcelona
Die meisten Gebäude freilich, die wir zu sehen bekommen, sind vor Ort zu finden. Ein weites Spektrum kann hier besichtigt werden. Es reicht vom vergleichsweise bescheidenen gläsernen Glockenturm-Aufzug in Sarlat-la-Canéda (2010) bis zum stadtbildprägenden „Torre Agbar“ (2005) in Barcelona. Dieser 142 hohe Turm für einen großen Wasserversorger ist einem gefrorenen Springbrunnen nachempfunden. Es fällt nicht schwer, sich für dieses Schein-Eis genauso zu erwärmen wie für das vorliegende Werkverzeichnis des Jean Nouvel.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir bereits zwei Architekturbände vorgestellt, die Philip Jodidio für den Taschen Verlag herausgegeben hat: Einmal zum japanischen Architekten Kuma (HIER) und einmal zur zeitgenössischen japanischen Architektur: „Contemporary Japanese Architecture“ (HIER).
„Jean Nouvel by Jean Nouvel – 1981-2022“, hrsg. von Philip Jodidio, Taschen Verlag, englisch-französische Ausgabe, 784 Seiten, 150 Euro.
