Hoffnung, Heimweh, Heilerde: Dincer Gücyeters bewegender Mutter-Sohn-Roman „Unser Deutschlandmärchen“ führt von Anatolien zum Niederrhein

Dincer Gücyeter Foto: Bücheratlas

Ein Märchen ist kein Ponyhof. Wer da bestehen will, muss auf der Hut sein. Verluste und Verletzungen sind niemals ausgeschlossen. Und eine Garantie aufs Happy End wird nicht gegeben. Insofern ist „Unser Deutschlandmärchen“ ein Märchen durch und durch – allerdings eines aus dem gelebten Leben. Dincer Gücyeter, der für seine Lyrik in diesem Jahr mit dem renommierten Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde, gestaltet sein Romandebüt als eine Autofiktion, die weitaus mehr mit dem Autobiografischen als mit dem Erfundenen zu tun hat.

Das Geld von den Bäumen pflücken

Der Schriftsteller, der auch Verleger des Elif-Verlags ist und an seinem Minijob als Gabelstaplerfahrer festhält, blättert im Familienalbum. Die Texte und Fotografien fügen sich zu einem Mutter-Sohn-Epos, das in Anatolien beginnt und nach Nettetal am Niederrhein führt.

Es war einmal! Zunächst ist die verwitwete Hanife empört, als ein Fremder ihre Tochter Fatma zur Frau haben will. Doch die Not ist zu groß. Der Verehrer mit dem riesigen Kopf bekommt, was er haben will. So zieht Fatma im Jahre 1965 mit Yilmaz nach Deutschland – in der Hoffnung, dort das Geld von den Bäumen pflücken und die Ernte in die türkische Heimat schicken zu können. Aber solche Bäume wachsen allenfalls im Märchen.

„Ein Sultan mit nacktem Hintern“

Für Fatma geht das entbehrungsreiche Leben weiter. Auch weil Ehemann Yilmaz, der eine Gastwirtschaft betreibt, keine Hilfe ist. Um alles muss sich Fatma kümmern. Vor allem um das Geld. Sie schuftet in der Fabrik und auf dem Feld. Nebenbei hilft sie Verfolgten aus der Türkei und bemüht sich, türkische Frauen aus der Prostitution zurück zu ihren Eltern zu führen. Fatma erklärt, sie trage die vierfache Last, „eine Frau, eine Waise, eine Arbeiterin, eine Migrantin“ zu sein. Woran es ihr nie mangelt, ist das Heimweh.

Als endlich der erste Sohn zur Welt kommt, nach langen Jahren des verzweifelten Hoffens, setzt sie darauf, durch ihn die Unterstützung zu bekommen, die ihr der Ehemann nicht gibt. Sie will ihn Murat nennen. Doch am Tag nach der Geburt trifft ein Telegramm ein: „Schwiegerpapa schreibt, wir sollen das Kind Dincer nennen.“ In der Kneipe gibt es eine Woche lang Freigetränke. Der Ehemann, erzählt Fatma, vergesse die Schulden, denn die Geburt eines Sohnes mache ihn zum Sultan: „Zu einem Sultan mit nacktem Hintern.“

„Sie ist nicht ganz dicht, meine Oma“

Das „Deutschlandmärchen“ ist ein bunt gewebter Teppich. Einige Fäden sind schon aus Dincer Gücyeters Lyrikband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ (2021) bekannt – das „Gastarbeiterkind“, die „Blubber-Girls“ oder auch die Nussknacker für die Verwandtschaft in der Türkei. In den kurzen Romankapiteln kommt mal die Mutter, mal der Sohn zu Wort. Gedichte werden zitiert und Theaterdialoge gibt es obendrein. Nüchtern informierende Alltagsskizzen wechseln mit hoch dosierter Poesie – wie im „Lied der Huren“: „Wir möchten ins Meer geworfen werden, auf der Mähne der Wellen brausen, möchten zum Strand gespült werden, verstummt und müde wie ein Stein.“

Zwischen archaischer Erzählung und verbitterter Klage gibt es einige heitere Kindheitsmomente. So ist der frisch entbundene Dincer sofort hellwach: „Ich glaub, sie ist nicht ganz dicht, meine Oma, was macht sie da mit meinem Pipimann, jetzt zieht sie noch an der Vorhaut. Oma, das da ist kein Börekteig, verstehst du mich, autsch!“ Doch die Basis des Buches bleibt der Blues, der vom ewigen Kampf um ein erträgliches Leben erzählt.

Ein Bordell als „erste Schreibakademie“

Mit Deutschland hadern Mutter und Sohn. Nicht nur wegen der fremdenfeindlichen Mordanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993) und jenen des NSU (2000 bis 2007). Sie hadern auch aufgrund der alltäglichen Erfahrungen. Fatma erinnert sich: „Manche haben uns freundlich empfangen, manche haben uns als Bedrohung gesehen, für manche waren wir Menschen zweiter Klasse, einige dachten sogar, wir würden ihnen die Arbeit wegnehmen.“ An die Mutter gerichtet sagt Dincer, dass er ihre gemeinsame Geschichte „vielleicht“ deshalb als Märchen bezeichne, „um auf deine ewig eiternde Wunde ein wenig Heilerde zu streuen.“

„Unser Deutschlandmärchen“ ist nicht nur ein intensiv leuchtendes Kapitel aus dem deutsch-türkischen Mit- und Nebeneinander. Es erzählt auch, wie Dincer zum Dichter wird. Seine „erste Schreibakademie“ sei ein Bordell in Bracht am Niederrhein gewesen. Als Jugendlicher habe er dort samstagmorgens beim Putzen geholfen. Und ein Richter vom Amtsgericht ist es, der ihm 2001 den Weg in die Öffentlichkeit weist: „Dincer, deine Zeit kommt langsam, du musst vor Menschen lesen, die müssen deine Gedichte hören.“

„Die Regel der Steppe“

Nicht zuletzt ist dieser Roman eine Liebeserklärung des Autors an seine Mutter. Gerade in jenen Passagen, in denen er ihre konservative Einstellung beklagt, leuchtet diese Liebe auf. Statt „Härte“ zu zeigen, wie es „die Regel der Steppe“ einem „richtigen Mann“ vorgibt, ist der Sohn ein sensibler Beobachter, der um ein Kälbchen weint, und ein Freund der Künste. Das entspricht nicht dem Rollenverständnis der Mutter. Doch der Sohn weiß damit umzugehen. Irgendwie.

Gegen Ende des Romans zieht Fatma Bilanz: „Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen, vergebens.“ Den Nachgeborenen empfiehlt sie: „Ihr sollt besser leben, freier, ohne Ängste. Jede Last, jeder Schmerz ist vergänglich, traut euch, habt keine Angst vor dem Leben.“ Ein schöner Wunsch, ein guter Rat, ein bewegender Roman.

Martin Oehlen

Die Premierenlesung

des Romans „Unser Deutschlandmärchen“ findet am 24. November 2022 um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln statt (vor Ort und im Livestream). Es moderiert Ulrich Noller.

Weitere Lesungen

gibt es in Bonn (25. 11, Altes Parlamentsgebäude), Berlin (1. 12., Ocelot), Düsseldorf (13. 12., Stadtbibliothek), Göttingen (14. 12., Literaturhaus) und Osnabrück (15. 12., Lagerhalle).

Der Gedichtband

„Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ ist 2021 im Elif-Verlag erschienen und kostet 20 Euro. Auch mit diesem Buch ist Dincer Gücyeter auf Lesereise: am 11. November beim Lyrikfestival in Neuruppin und am 12. November in Grimma im Kulturlabor. Und bei den „Deutschlandmärchen“-Terminen wird von diesem Band gewiss auch die Rede sein.

Dincer Gücyeter: „Unser Deutschlandmärchen“, mikrotext Verlag, 216 Seiten, 25 Euro.

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