
Ein Einödhof in den Schweizer Bergen, so abgelegen, dass selbst der Pfarrer nur selten seinen Weg hinauffindet. Ringsum Berge so hoch wie der Himmel und Wiesen, auf denen die Gräser im Wind zittern. Hier wohnt Tell. Wilhelm Tell, den wir alle aus dem Deutschunterricht kennen. Friedrich Schiller widmete dem Mann, der seinem Sohn einen Apfel vom Kopf schoss und die Schweiz von einem Tyrannen befreite, 1704 ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Max Frisch machte aus dem Stoff gut zweieinhalb Jahrhunderte später die Novelle „Wilhelm Tell für die Schule“. Jetzt hat sich der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt des alten Heldenepos angenommen.
Literarische Heimkehr in die Alpen
Schmidt, im vergangenen Jahr für seinen Krimi „Kalmann“ mit dem Crime Cologne-Award 2021 ausgezeichnet, lebt seit einigen Jahren in Island, wo auch sein preisgekröntes Werk spielt. Mit seinem Historienroman „Tell“ ist er – zumindest literarisch – in das Land seiner Geburt zurückgekehrt.
Joachim B. Schmidt bewies schon in „Kalmann“ sein beachtliches erzählerisches Potenzial. In „Tell“ läuft er zur Höchstform auf. Erzählt wird die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, der Stoff ist aufgeteilt in zehn Kapitel, die wiederum in viele einzelne, mitunter nur eine Seite umfassende Sequenzen gegliedert sind.
„Dann ist Stille, dann habe ich Ruhe“
Da kommen Tells Frau Hedwig zu Wort, sein Sohn Walter, seine Mutter, die Schwiegermutter, der Pfarrer und nicht zuletzt Reichsvogt Hermann Gessler und dessen brutaler Gefolgsmann Harras. Vom Schiller‘schen Stoff ist dabei wenig mehr geblieben als die Rahmenhandlung.
Tell wird von dem tyrannischen Gessler gedemütigt und rächt sich auf grausame Weise. Bei Schmidt bezahlt er mit dem Leben für seine Tat. Hoch oben in den Bergen stirbt der Einödbauer einen einsamen Tod. „Hier will ich sitzen bleiben, will mich ausruhen. Der Wind bläst mir den Schnee ins Gesicht. Wenn ich mich nicht rühre, bin ich bald zugeschneit. Dann ist Stille, dann habe ich Ruhe.“ Seine Leiche wird nie gefunden.
Ein Getriebener mit Schuldgefühlen
Schmidts Tell ist ein Getriebener, belastet von Schuldgefühlen und dem Wissen, den Tod seines Bruders verursacht zu haben. Inzwischen hat er dessen Stelle in der Familie eingenommen und teilt das Bett mit Hedwig, der Witwe seines Bruders – eine Zweckgemeinschaft, in der die Liebe fehlt und aus der zwei Kinder hervorgegangen sind. Keiner mag den schweigsamen Mann, der niemandem in die Augen sehen kann. Sein Ziehsohn Walter, der eigentlich sein Neffe ist, fürchtet Tells Unberechenbarkeit und fragt sich mitunter, „ob es mich überhaupt gibt. Ob er sich wünscht, dass es mich nicht gäbe“.
Eindringlich schildert Schmidt den Daseinskampf der Menschen in einer menschenfeindlichen Umgebung und die Erniedrigungen, denen sie unter der Herrschaft der Habsburger ausgesetzt sind.
Der Hut des Landvogts
Tell sichert das Überleben seiner Familie durch Wilderei und gerät dadurch in den Fokus Gesslers. Als er bei einem Marktbesuch den Hut des Landvogts nicht grüßt – eine Schusseligkeit, mehr nicht, und ganz gewiss kein politisches Statement – erregt er erneut dessen Unwillen und wird von ihm gezwungen, Walter einen Apfel vom Kopf zu schießen. Erst jetzt spürt er, wie sehr er dieses Kind liebt, das er so oft gezüchtigt hat. Walter sei ihm der Liebste, gesteht er dem Pfarrer kurz vor seinem Tod. „Obwohl er gar nicht sein Fleisch und Blut sei.“
Schmidts Verdienst ist es, Tell als einen Mann mit Gefühlen, mit Ängsten und einer Vergangenheit zu schildern, die seine Seele krank gemacht hat. Nein, ein strahlender Held ist dieser Tell nicht, und genau das macht dieses Buch so lesenswert. Hier wird eine völlig neue, eine moderne Geschichte erzählt über einen Menschen, der sich einer alten Schuld stellen muss – und der eher nebenbei das Land von einem Tyrannen befreit.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
findet sich eine Rezension zu Joachim B. Schmidts anrührendem Island-Roman „Kalmann“ (HIER) sowie ein Bericht über eine Fragestunde mit dem Autor an der Kölner Universität (HIER).
Lesungen mit Joachim B. Schmidt
am 6. Mai 2022 in Mülheim an der Ruhr,
am 7. Mai in Dresden,
am 17. Mai in St. Gallen,
am 18. Mai in Thun,
am 20. Mai in Frauenfeld.
Weitere Termine sind für den September geplant.
Joachim B. Schmidt: „Tell“, Diogenes, 284 Seiten, 23 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
