
Jean Bosmans ist Schriftsteller. Mitten in Patrick Modianos Roman „Unterwegs nach Chevreuse“ lässt er uns wissen, was seine Poetik ausmacht. Einst habe ihm sein Lehrer beigebracht: „Prosa und Poesie bestehen nicht bloß aus Wörtern, sondern vor allem aus Schweigen.“ Fast möchte man behaupten, dass aktuell in der Literatur nirgendwo so kunstvoll geschwiegen wird wie in dem Werk von Patrick Modiano. Ein ums andere Mal entführen uns seine schmalen Romane in ein schwarz-weißes Paris der 1960er Jahre. Mit Dialogen, deren Sätze oft in einem Schweigen münden und jedem Film Noir eine Zierde wären.
Verschollene Beute aus einem Raubzug
Jean Bosmans begegnen wir nicht zum ersten Mal in einem Modiano-Roman. Lange Zeit ist nicht so recht zu benennen, was den Helden diesmal umtreibt, und schon gar nicht, warum einige Personen offenbar drauf und dran sind, ihn wegen einer Geschichte aus der Vergangenheit zur Rede zu stellen. Was ist das für eine merkwürdige Gruppe, die sich regelmäßig im Pariser Stadtteil Auteuil einfindet? Und was hat es mit dem Haus aus der Kindheit auf sich, das sich in der Chevreuse bei Paris befindet – genaugenommen (und in Bezug auf Adressen ist Patrick Modiano sehr genau) in der Rue du Docteur-Kurzenne 38?
Erst allmählich wird – wie hinter einer Milchglasscheibe – angedeutet, dass es sich um die verschollene Beute aus einem Raubzug handeln könnte. Als Kind hat Jean Bosman womöglich mitbekommen, wo das Versteck liegen könnte. Doch Klartext wird hier kaum einmal geredet. Lieber wird geschwiegen, wird nicht gefragt, wird nur behutsam recherchiert.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Wieder einmal geht es darum, Ordnung in die Vergangenheit zu bringen. Und wieder einmal zeigt sich, was für eine komplizierte Angelegenheit das ist, wenn die Erinnerung schon nicht mehr weiß, ob man den Satz über den Frühling in Paris einst gesagt hat oder nur gern gesagt hätte.
Ja, da ist erneut einer auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen der Erinnerung, die Marcel Proust in „A la Recherche du temps perdu“ ausgebreitet hat, und der bei Patrick Modiano. Der Autor selbst hat darauf in seiner Nobelpreisrede im Jahre 2014 verwiesen: „Prousts Erinnerung lässt die Vergangenheit in allen Einzelheiten wie ein Tableau vivant wieder auftauchen. Heute habe ich das Gefühl, dass die Erinnerung sich ihrer selbst viel weniger sicher ist, da sie sich in einem ständigen Kampf gegen Amnesie und Vergessen befindet. Diese Schicht, diese Masse des Vergessens, die alles verdunkelt, bedeutet, dass wir nur Fragmente der Vergangenheit, unzusammenhängende Spuren, flüchtige und fast unfassbare menschliche Schicksale aufnehmen können.“
„Es gibt Leute, die haben mit dir Böses im Sinn“
Patrick Modianos Recherche bewegt sich zwischen Wirklichkeit und Traum. Die Zeitebenen scheinen sich zwischenzeitlich aufzulösen: Kindheit und Jugend und Alter fließen durch den Roman, als wäre alles ein Gewässer. Darin Fragmente, Spuren, Schicksale aller Art.
Oft genügen dem Autor einschlägige Vokabel und Requisiten, um eine Atmosphäre des Vagen und Vergangenen zu kreieren. Da gibt es eine alte Telefonnummer, die man besser nicht anrufen sollte, oder einen mehr oder minder zufällig entdeckten Taschenkalender, in dem der eigene Name festgehalten ist. Eine alte Generalstabskarte macht sich immer gut, obskure Hotels sind willkommen. Befürchtungen werden formuliert, Warnungen ausgestoßen: „Es gibt Leute, die haben mit dir Böses im Sinn.“
Die Kunst der Atmosphäre
Patrick Modianos Roman, von Elisabeth Edl abermals stimmungsstark ins Deutsche übertragen, ist nicht die Top-Empfehlung für Leserinnen und Leser, die auf einen scharfen Plot aus sind. Wer aber einen Sinn für Atmosphäre hat, für ein Schweben in Unruhe und Melancholie, der ist mit „Unterwegs nach Chevreuse“ hervorragend bedient.
Patrick Modianos Sound kann süchtig machen. Das sagen wir an dieser Stelle nicht zum ersten Mal. Und wer sich auf ihn einlässt, kommt kaum um zwei Fragen herum: Wann erscheint der nächste Modiano – und wann geht es endlich mal wieder nach Paris?
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich auch Besprechungen zu Patrick Modianos vorangegangenen Romanen „Schlafende Erinnerungen“ von 2018 (HIER) und „Unsichtbare Tinte“ von 2021 (HIER).
Patrick Modiano: „Unterwegs nach Chevreuse“, dt. von Elisabeth Edel, Hanser, 158 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Hat dies auf Der Bücherflüsterer rebloggt und kommentierte:
Das sinbd einfach immer wieder tolle Beiträge. Gut das ich diese speichern kann. Animierend. Einziger Nachteil. Die Wunschliste wird immer länger. Rollt schon unter der Haustür durch. Bis bald.
LikeGefällt 1 Person
Wunderbar! Das freut uns sehr. Vielen Dank fürs Lesen und Loben!
LikeLike
Nachteil. Mein Taschengeld für Bücher. Ich muss anders planen..
LikeGefällt 1 Person