
Wachsamkeit ist geboten: Blick von Notre Dame über Paris. Fotos: Bücheratlas
Plötzlich dieser Anruf am späten Abend im Sommer 1965. Eine Frau sagt, es sei ein Unfall geschehen. Sie bittet den Mann, den sie erst einige Wochen vorher kennengelernt hatte, sofort in die Avenue Rodin 2 zu kommen. Dort angelangt, blickt er auf den Leichnam eines gewissen Ludo F. Die Frau, deren Name ausdrücklich nicht genannt wird, erklärt, beim Hantieren mit einem Revolver habe sie ihn „aus Versehen“ getötet. Viele Seiten später wird allerdings beiläufig aus dem Polizeibericht zitiert, wonach drei Hülsen gefunden wurden, die zu den drei abgefeuerten Kugeln gehörten. Bei der Beseitigung der Tatwaffe ist der Erzähler behilflich – und hofft, dass dieser Vorfall längst verjährt sei, jetzt, da er dies alles schildert.
Das ist, wenn man so will, der dramatische Kern von Patrick Modianos neuem Roman „Schlafende Erinnerungen“. Allerdings wissen Leser des französischen Autors, dass es nicht ein rasanter Handlungsverlauf ist, der die Lektüre ein ums andere Mal zum Faszinosum macht. Vielmehr ist es die Atmosphäre eines untergegangenen Paris, einer Metropole in Schwarz-Weiß. Zahlreich sind die Geheimnisse (inklusive Geheimpolizei und Geheimgesellschaft). Nur vereinzelt blitzen Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke. Dieses Zwielicht passt zu der Gesellschaft, in der sich der Erzähler einst bewegte. So erinnert er sich, dass da einmal von einer „Russen-Bande vom Schwarzmarkt“ die Rede war. Doch gelingt es ihm nicht, Licht ins Dunkel ihres Wirkens zu bringen. Das sind „schlafende Erinnerungen“, die nicht geweckt werden können.
Erneut sind die Leser des schmalen Bandes geladen, mit Modiano durch Paris zu flanieren, ganz ohne Stadtplan oder GPS. Vermutlich gibt es keinen Romancier weltweit, der in seinen Werken mehr Straßennamen pro Seite nennt als der Franzose, der im Jahre 2014 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Sein Erzähler, dem Modiano ein paar autobiografische Züge verpasst hat, bekennt, er habe es sich mit etwa 14 Jahren angewöhnt, durch die Straßen zu schlendern. Modiano selbst wohnt im fünften Arrondissement, dem Quartier Latin.

Figurengruppe „La Danse“ von Jean-Baptiste Carpeaux an der Fassade der Opéra Garnier in Paris. Bei der Präsentation im Jahre 1869 ein Skandal. Knapp hundert Jahre später wurde sie aus konservatorischen Gründen erst in den Louvre und schließlich 1986 ins Musée d’Orsay transferiert. Am originalen Platz ist nun eine Kopie zu sehen, von der man aber nicht ahnt, dass es eine ist, wüsste man’s nicht besser.
Mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Anruf, der den Erzähler zu der Leiche des Ludo F. dirigiert hat, wird im Gedächtnis gegraben. Denn das ist das zentrale Bestreben: „Ich versuche Ordnung in meine Erinnerungen zu bringen. Jede von ihnen ist ein Puzzleteilchen, viele fehlen jedoch, so dass die meisten verstreut daliegen.“ Diese Leerstellen werden immer wieder benannt. Der Leser begleitet den Autor gleichsam bei seiner Recherche, die er im Jahre 2017 anstellt, wird Zeuge seiner Findigkeit wie seiner Ungewissheit. Mit dem Erzähler schickt uns Modiano zu einigen rätselhaften Frauen. Nicht nur zu der Namenlosen, die Ludo F. getötet hat. Auch zählt dazu Madeleine Péraud, mit der er sich über esoterische Literatur auszutauschen vermag, oder Madame Hubersen, die mit ihm im Taxi nach Versailles fahren will, weil sie Angst vor den afrikanischen Masken in der eigenen Wohnung hat. Mit Geneviève Dalame ist er eine Weile zusammen, bis sie, die offenbar in Gefahr geraten ist, von der Bildfläche verschwindet.
Es sind Begegnungen aus den 60er Jahren, an die sich der Erzähler erinnert. Inspiriert wurde er dazu durch ein Buch, das er auf den Quais der Seine entdeckt hat: „Die Zeit der Begegnungen“. Es gilt, auf dem Papier festzuhalten, was die Erinnerung noch freigibt. Es plagen ihn einige Schuldgefühle. Und er bedauert, „heute, am 1. Februar 2017“, dass er den Menschen, denen er begegnet ist, nicht noch die eine oder andere Frage gestellt hat. Antworten gibt es jetzt keine mehr.
Patrick Modianos melancholische Streifzüge durch das vergangene Paris sind auf eigentümlich subtile Weise eine Feier des Lebens. Da sind „die tausend Wege, die du an den Kreuzungen deines Lebens nicht genommen hast, und du selbst hast geglaubt, es gäbe nur einen einzigen.“ Und da sind die Rätsel, die ungelöst bleiben. Auch oder gerade sie bezeugen die Vielfalt, den Reichtum, die Erstaunlichkeit des Daseins. Darüber zu schreiben, ist die Kunst, die der Autor so fabelhaft beherrscht. Auch „Schlafende Begegnungen“ ist ein typischer Modiano-Roman: Ein stilles Spektakel.
Martin Oehlen
Patrick Modiano: „Schlafende Erinnerungen“, deutsch von Elisabeth Edl, Hanser Verlag, 112 Seiten, 16 Euro.
Nobelpreis oder nicht, ich liebe Modiano sehr. Den steinernen Teufel und die Tänzerinnen aber auch.
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Der Nobelpreis-hin-oder-her-Hinweis ist absolut korrekt. Danke.
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