

Erst einmal etwas ganz anderes! Marcel Beyer möchte zu Beginn des ihm gewidmeten Abends im Literaturhaus Köln eine Sache klarstellen. Er habe nämlich eine Mail von der Petitions-Plattform change.org erhalten, worin ihm mitgeteilt werde, dass „Emma“ weiterhin seine Hilfe brauche und dass man ihm zu seiner Unterschrift unter eine Petition zu Russlands Krieg in der Ukraine beglückwünsche. Allerdings habe er einen solchen Aufruf nie unterschrieben, sagte Marcel Beyer sichtlich verstimmt.
Von der Zeitschrift und ihrer Herausgeberin Alice Schwarzer habe er dann erfahren wollen, ob sein Name tatsächlich auf dieser (von außen nicht einsehbaren) Liste stehe – verbunden mit der Bitte, diesen im Falle des Falles zu streichen. Darauf habe er eine „schmallippige“ Antwort erhalten, er solle sich an die Plattform mit Sitz in Kalifornien wenden. Weitere Nachfragen des Autors wurden gänzlich ignoriert. Darum dies in aller Form: Nein, er habe diese Petition nicht unterschrieben.
Russland sorgt für Programmänderung
Damit steckte die Veranstaltung, so merkwürdig es klingen mag, schon mittendrin in ihrem unterschwelligen Zentralthema. Denn von Russland, dem neuen fremden Land, war nun noch einige Male die Rede. Zwar sollte Marcel Beyer nach ursprünglicher Planung über seinen zuletzt erschienenen Gedichtband „Dämonenräumdienst“ sprechen. Doch die aktuelle Kriegslage ließ ein anderes Beyer-Buch verlockender erscheinen: „Putins Briefkasten“ von 2012.
Der Büchnerpreisträger ist derzeit Gast am neuen Erich-Auerbach-Institut der Universität zu Köln. Dort widmet sich der Autor gemeinsam mit dem Germanistik-Professor Christof Hamann der Frage, wie sich wissenschaftliches und literarisches Schreiben unterscheiden. Dabei legt das Auerbach-Institut Wert darauf, nicht nur innerhalb der Forschung, sondern auch im Stadtraum Gehör zu finden, wie Direktorin Anja Lemke feststellte. So also gelangte diese „Auerbach Lecture“ ins vollbesetzte Literaturhaus Köln.
Ein Mann von „genereller Unauffälligkeit“
Sehr schnell ging es dann zu „Putins Briefkasten“, den der Autor einst vergeblich in Dresden gesucht hatte. Tatsächlich hatte sich Wladimir Putin mit seiner Familie in den 1980er Jahren dort aufgehalten. Der Erzählung nach war er ein Mann von „genereller Unauffälligkeit“, der allerdings im Rückblick „aus der Masse russischer Dresdner“ in vielen Facetten herausstach. Als Führungskraft beim KGB war er in den Tagen des Mauerfalls auch damit beschäftigt, die die Aktenberge zu verbrennen. Auf die Frage der revolutionär gestimmten Noch-DDR-Bürger, wer er denn sei, habe der Geheimdienstagent geantwortet: ein Übersetzer.
Nun bekennt Marcel Beyer, dass er nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine „ganz skeptisch“ geworden sei, ob das, was er geschrieben habe, noch Geltung habe. Doch dann habe er festgestellt, dass er nichts aus seinem Werk würde streichen müssen: „Ich erkläre mir das damit, dass ich der Macht gegenüber ein natürliches Misstrauen habe.“ Daher könne Putin bei ihm gar nicht „eine ungebrochene Bezugsperson“ sein.
Eheleute Putin im Raubtierhaus
In dem Band „Putins Briefkasten“, 2003 begonnen und 2012 veröffentlicht, wird auch ein Besuch der Eheleute Putin im Dresdner Zoo imaginiert. Als sie dort ihre „geheime Dostojewskis-Gedenkstätte“ besuchen, heißt es: „Dieser Mann raucht nicht, dieser Mann trinkt nicht, man wird ihn nicht in der Nacht auf Montag von der Militärpolizei betrunken aus einem Gebüsch im Großen Garten ziehen lassen müssen. Dieser Mann steht still vor dem Löwenkäfig, und wer weiß, vielleicht reißt er, wenn außer ihm niemand im Raubtierhaus ist, seiner Frau zuliebe auch einmal rasch den Mund auf, in Erinnerung an einen großen russischen Dichter ebenso wie in Erwartung seiner eigenen Rolle in den kommenden Jahrzehnten.“
Die Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigem ist es, die Marcel Beyer immer wieder fasziniert. Der Sammler von Fotografien und Zeitungsausschnitten sucht im Historischen den Resonanzraum für die Gegenwart. Von allem Anfang an, möchte man meinen. So stieß Marcel Beyer einst bei seinem Umzug von Köln nach Dresden auf ein Gedicht, das er als Schüler geschrieben hatte: „Ich kenne das Ufer der Wolga“. Überhaupt findet sich manch Osteuropäisches in seinen Versen – so las er an diesem Abend auch Verse, die nach Narwa in Estland und nach St. Petersburg in Russland wiesen. Dichtend wird da die Zeit erkundet. „Mich interessiert weniger, was Menschen tun“, sagt er, „sondern von welchen Sehnsüchten sie getrieben werden.“
Vorne machte es Piff-Puff
Es war ein großer Bogen, der im Literaturhaus gespannt wurde. An dessen einem Ende stand die Begeisterung des jungen Marcel Beyer für das Werk von Friederike Mayröcker. Auf das Werk der Lyrikerin sei er als 14-, 15-Jähriger über die Lektüre von Ernst Jandl gelangt. Der habe keine Chance ausgelassen, das Werk der Lebensgefährtin zu preisen. Daraufhin hat Marcel Beyer alles von ihr gelesen, was er von ihr zu lesen bekam. Selbst im Chemie-Unterricht habe er unterm Tisch die Lektüre fortgesetzt, während es vorne „Piff-Puff“ gemacht habe. Friederike Mayröcker sei immer ein Mensch gewesen, sagte er, der in die Zukunft geschaut habe – „es ging immer um den zu schreibenden Text.“
Und am anderen Ende des Bogens stand das Forschungsprojekt am Erich-Auerbach-Institut, das Marcel Beyer nach Köln geführt hat: Was sind die Spezifika des literarischen und des wissenschaftlichen Schreibens?
Literatur muss keine Ergebnisse liefern
Beyer meint, der entscheidende Unterschied liege im Stil. Er verweist darauf, dass im literarischen Text nicht alles „festgetackert“ und mit einem Fazit versehen sein müsse. So gehe es ihm nicht darum, Ergebnisse darzulegen, sondern Wahrnehmungsprozesse nachvollziehbar zu machen. Und er fragte seine literaturwissenschaftlichen Mitstreiter auf dem Podium: „Warum immer dieselbe Dramaturgie in wissenschaftlichen Texten?“
Allerdings scheint es so zu sein, dass man bei diesem Forschungsprojekt noch am Anfang steht. Das lässt hoffen auf einen Nachfolgetermin im Literaturhaus. Dann ist womöglich nicht nur Putins Briefkasten in Dresden Geschichte, sondern auch sein Krieg in der Ukraine.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
findet sich ein Beitrag über Marcel Beyers jüngsten Gedichtband „Dämonenräumdienst“ – und zwar HIER.
Die von Marcel Beyer und anderen herausgegebene Werkausgabe Thomas Kling wird HIER vorgestellt.
Das Erich Auerbach Institut
an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln trägt den Namen des jüdischen Gelehrten Erich Auerbach, der 1892 in Berlin geboren und 1957 in Wallingford (USA) gestorben ist. Der Literaturwissenschaftler und Romanist, der einen Lehrstuhl in Marburg innehatte, wurde 1935 im Rahmen der NS-Judenverfolgung in den Ruhestand versetzt. Er emigrierte zunächst nach Istanbul und 1947 in die USA. Als eines seiner Hauptwerke gilt „Mimesis – Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“, das mehrere Auflagen erfuhr.
Zentrale Aufgabe des 2021 gegründeten Erich Auerbach Instituts ist der Ausbau internationaler Wissenschaftskontakte und die Förderung des internationalen Austausches in der geisteswissenschaftlichen Forschung. Das Jahresthema 2022 lautet: „wirklich/möglich – Zum Verhältnis von Realität und Fiktionalität“.
Danke für den Bericht. Ob es einen Lesungsmitschnitt gibt? Werde mal nachsehen.
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Sehr gerne geschehen! Was den Mitschnitt angeht: Ich fürchte, der Stream ist nicht mehr verfügbar. Aber sicher weiß man im Literaturhaus mehr dazu.
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Im Zweifelsfall kann ich auch Putins Briefkasten lesen, das ich noch nicht kenne (und nicht einmal besitze, ts ts). Bin mehr auf den Gedicht-Beyer abonniert und hab die Prosa bisher weitgehend ignoriert. – Danke.
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