
Was für eine Enttäuschung! Es ist ein Mädchen. Der Champagner wird im Peugeot 403 bleiben, der Anruf bei der Verwandtschaft kann warten. Der Vater wird nach der Geburt still nach Hause gehen, denn heute gibt es für ihn in Rouen nichts zu feiern. „Es ist ein Mädchen.“
Die festgelegte Rolle als Hausfrau und Mutter
Mädchen, das sind rosa gekleidete Mängelexemplare, zu nichts nütze und eine Enttäuschung vom ersten Atemzug an. Zumindest, wenn man im Jahr 1959 geboren wird und die Familie auf einen Jungen hoffte. „Da haben wir’s, dein Vater fällt in sich zusammen, hat er wirklich dran geglaubt? Was ist es? Ein Flop.“
Mit Witz und messerscharfem Blick analysiert die französische Autorin Camille Laurens in ihrem autofiktionalen Roman „Es ist ein Mädchen“, was es für Frauen ihrer Generation – und vielleicht auch für weitaus später geborene „Flops“ – bedeutet, in einer männerdominierten westlichen Gesellschaft aufzuwachsen. Von Kindesbeinen an wird Laurence, der Zweitgeborenen einer gutsituierten französischen Arztfamilie, die Rolle der zukünftigen Hausfrau und Mutter zugewiesen. Mädchen sind brav, sie spielen mit Puppen und warten auf ihren Traumprinzen. Und wenn sie Pech haben, greift ihnen ein Onkel am Kaffeetisch in den Slip, und niemand schreitet dagegen ein.
Das Versprechen eines Aufbruchs
Der Junge, erklärt ihr der Tanzlehrer im Ballettunterricht, „ist dazu da, das Mädchen zu tragen, zu stützen, aufzuwerten, ‘wie im richtigen Leben‘, sagt er und dreht sein Grimassengesicht zu den Mamas.“ Dabei weiß Laurence schon mit fünf Jahren: „Alles, was ein Junge kann, außer im Stehen pinkeln (aber wer weiß), das kann ich auch. Ich habe nur keine Lust dazu.“ Voller Neugierde versucht sie herauszubekommen, was denn nun so besonders ist an diesen kleinen Jungen, die stets die besseren Karten haben und zu allem Übel auch noch mit Murmeln spielen dürfen, was Mädchen streng verboten ist.
Camille Laurens, 1957 in Dijon geboren, schildert eine Frau, die dennoch versucht, ihren Weg zu gehen. Die 1968er Jahre versprechen Aufbruch und Freiheit – und bescheren Laurence vor allem die traumatische Erfahrung einer abgebrochenen Schwangerschaft. Auch sie geht irgendwann den Weg ihrer Mutter. Sie heiratet, bekommt einen Sohn, verliert ihn kurz nach der Geburt, bekommt ein zweites Kind, ein Mädchen. Verzichtet auf eine Karriere.
Alice spielt Fußball
Doch Alice, ihre Tochter, ist so ganz anders als sie selbst als Kind war: mutig, selbstbewusst, durchsetzungsfähig. Sie spielt Fußball mit den Jungs, und selbstverständlich besitzt sie einen ordentlichen Vorrat an Murmeln.
Dieses Kind, das zu einer schönen jungen Frau heranwächst, lehrt Laurence zu erkennen, wie sehr sie selbst in alten Denkmustern feststeckt, und versöhnt sie letztendlich mit ihrem eigenen Geschlecht. Alice schert sich nicht um Geschlechteridentität, und sie fühlt sich zu Männern wie zu Frauen hingezogen. „Man verliebt sich in einen Menschen, in eine Person, nicht in eine Sache, nicht in ein Geschlecht“, erklärt sie der Mutter, als die erfährt, dass sie sich in ein Mädchen verliebt hat. Laurence tut sich nicht leicht mit dieser Nachricht, doch sie hat dazugelernt. „‘Du hast recht, mein Schatz‘“, habe ich gesagt, „‘ein Mädchen, das ist wundervoll‘.“
Petra Pluwatsch
Camille Laurens: „Es ist ein Mädchen“, deutsch von Lis Künzli, dtv, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
