Gustave Flaubert wurde vor 200 Jahren, am 12. Dezember 1821, in Rouen geboren. Einigen seiner Spuren sind wir in der Normandie nachgegangen. Nicht vergessen wollen wir, dass er sich immer wieder einmal in Paris aufgehalten hat. Doch sein Zentrum blieb der küstennahe Westen. Nach dem Start in seiner Geburtsstadt Rouen und dem Ausflug nach Trouville-sur-mer geht es nun nach Croisset.

Der Schnurrbart ist unübersehbar in Croisset. Er prangt beschwingt als Graffitti auf dem Fußweg, und er schmückt als Skulptur eine Verkehrsinsel. Croisset ist der Ort, in dem fast das gesamte Werk von Gustave Flaubert entstanden ist. Deshalb gedenkt man im Jubiläumsjahr auch hier des großen Schriftstellers. Allerdings muss es gesagt werden: So idyllisch die Wohnlage einst gewesen sein mag, so wenig inspirierend wirkt der Ort in unseren Tagen.
Der Umzug aus dem Stadthaus auf den Landsitz in Croisset, nur wenige Kilometer seineabwärts von Rouen gelegen, erfolgt 1844. Äußerer Anlass dafür ist ein körperlicher Zusammenbruch des 23-jährigen Gustave. In einem Brief an einen Freund spricht er von einem „Schlaganfall im Kleinen, verbunden mit nervösen Störungen, die ich noch beibehalte, weil es vornehm ist.“ Den medizinischen Notfall, mutmaßlich ein epileptischer Anfall, nutzt er zum Abbruch des verhassten Jura-Studiums in Paris. Zwei Jahre später sterben sein Vater und seine Schwester Caroline. Nun lebt Gustave Flaubert mit der Mutter und der frischgeborenen Nichte in Croisset. Das bleibt sein Stammsitz bis ans Lebensende.


Die Immobilie machte einst was her. Im ersten Stock des Anwesens stand dem Schriftsteller ein großes Arbeitszimmer – eher ein Arbeitssaal – mit vier hohen Fenstern zur Verfügung. Traut man einem Gemälde von Georges Rochgrosse aus dem Jahre 1874, so waren die Wände bis zur Decke mit Büchern gefüllt. In der Mitte des Raumes ein runder Tisch mit bodentiefer Tischdecke. Dahinter ein Stuhl mit hoher Rückenlehne, gerade recht für den groß gewachsenen Dichter.
Allerdings wird das „hübsche weiße Haus im alten Stil“, von dem Guy de Maupassant geschwärmt hat, schon bald nach Flauberts Tod im Jahre 1880 abgerissen. Seine Nichte Caroline – die Neigung, Vornamen auf die Nachfahren übergehen zu lassen, ist stark ausgeprägt – ist die Erbin. Sie verkauft die Immobilie, um der finanziellen Klemme zu entkommen, in die das Holzimport-Unternehmen ihres Mannes geraten war. An die Stelle des Wohnhauses wird eine Destillerie errichtet, die allerdings nur zehn Jahre Bestand hat. Anschließend macht sich dort eine Papierfabrik breit. Heute befinden sich auf dem Areal diverse Unternehmen. Der landschaftliche Reiz, den diese Wohnlage einst hatte, ist nicht mehr zwingend offensichtlich.

Doch es ist nicht alles vom Erdboden verschwunden, was an Flaubert erinnern könnte. Ein Pavillon inmitten eines bestens gepflegten Gartens ist erhalten geblieben. Für den Kauf und die Renovierung des kleinen Gebäudes wurde in den Jahren 1904 bis 1906 eine Spendensammlung durchgeführt. Auch die Beschädigungen durch einen Bombenangriff im Jahre 1943 sind längst behoben worden. Der Pavillon, der seit diesem Jahr offiziell zu den Literaturmuseen der Region gehört, kann besichtigt werden. Von hier aus schweift der Blick hinüber zur Seine, die vor der Gartenmauer vorbeifließt – wenn auch von einer Straße getrennt.
Croisset war für Flaubert ein wunderbarer Rückzugsort. Hier konnte er sich seiner Suche nach dem richtige Wort widmen, dem „mot juste“. Ein guter Prosasatz, so sein Anspruch, müsse wie ein Vers „unersetzbar“ sein.
Doch er führt kein Dasein als Eremit. Besuch bekam er des Öfteren von seinem Freund Louis Bouilhet. Seltener – so erfährt man es rund um den Pavillon in Croisset – von Maupassant, George Sand, Iwan Turgenjew oder Emile Zola. Und er pflegt seine Korrespondenz. Im Nachwort zu einer Briefauswahl, die Cornelia Hasting bei Dörlemann zusammengestellt hat, schreibt Rainer Moritz: „Mitunter scheint es so, als schreibe Flaubert Briefe in solcher Fülle vor allem, um das Tor zur Welt offenzuhalten und Antworten zu bekommen.“

In Croisset schrieb Gustave Flaubert auch den Roman, mit dem er Weltruhm erlangte. „Madame Bovary“ (1856) erzählt die Geschichte einer Frau, die nicht damit klarkommt, dass ihr Leben kein Funken sprüht wie in den von ihr so hochgeschätzten Romanwelten. Ein Phänomen ist das, welches als „Bovarismus“ sogar Eingang in die Lexika gefunden hat. Wegen der fremdgehenden Emma Bovary, die keineswegs dem offiziellen Sittenbild entsprach, wurde der Roman sogar vor Gericht verhandelt. Die Roman-Anregung hatte Flaubert 1848 bei der Zeitungslektüre bekommen, als er die Nachricht vom Freitod der Arztgattin Delphine Delamare in Ry entdeckte. Der Ort, der im Roman Yonville-l’Abbay heißt, lag nur 25 Kilometer vom Schreibtisch des Dichters entfernt.
Dieser Roman will gelesen werden. Flauberts weitere Werke ebenso. Und Chancen gibt es dazu zur Genüge. Vor knapp zehn Jahren legte Elisabeth Edl eine neue Übersetzung der „Madame Bovary“ bei Hanser vor. Es folgten ihre Neuübertragungen der „Education sentimentale“ unter dem Titel „Lehrjahre der Männlichkeit“ im Jahre 2020 und zuletzt in diesem Jahr die „Memoiren eines Irren“. Wer damit durch ist, mag sich einlassen auf das antik-kriegerische „Salambo“ und auf die biblisch-spezielle „Versuchung des heiligen Antonius“. Auf keinen Fall sollte das nachgelassene Fragment „Bouvard und Pécuchet“ ignoriert werden, das ein irrwitzig-überbordendes Spektakel um zwei glücklich scheiternde Dilettanten ist.
Croisset mag unscheinbar wirken. Nur ein weiterer Ort auf der Karte. Doch hier konnte Gustave Flaubert seine eigene Welt kreieren. Ganz so, wie er es in einem Brief im Jahre 1857 beschrieben hat: „Ein Schriftsteller muss in seinem Werk wie Gott bei der Erschaffung sein, unsichtbar und allmächtig.“ Das muss himmlisch sein.
Martin Oehlen
Die ersten Etappen unserer Reise zu Flaubert führten nach Rouen (HIER ) und nach Trouville-sur-mer (HIER).
Auf diesem Blog findet sich eine Besprechung von Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Lehrjahre der Männlichkeit“ genau HIER; außerdem haben wir bereits Michael Winocks starke Flaubert-Biografie HIER gewürdigt. Beide Werke erscheinen im Hanser-Verlag.
Neuerscheinungen
Gustave Flaubert: „Memoiren eines Irren“, dt. von Elisabeth Edl, Hanser, 240 Seiten, 28 Euro. E-Book: 20,99 Euro.
Gustave Flaubert: „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit – Ausgewählte Briefe 1832-1880“, hrsg. und übersetzt von Cornelia Hastings, Dörlemann, 320 Seiten, 27 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

