
Ihr wisst vielleicht nicht, was für eine Lust das ist: dichten! Schreiben! Oh! Schreiben, das heißt sich der Welt bemächtigen; das heißt fühlen, wie das eigene Denken entsteht, wächst, lebt, sich auf seinem Podest aufrichtet und für immer dort bleibt.“ Mit diesen Worten feierte Gustave Flaubert (1821-1880) die Kunst, mit der er berühmt geworden ist. Doch als er sie wählte, in seiner Erzählung „Un parfum à sentir ou les Baladins“, war der Schriftsteller erst 14 Jahre alt. Gleichwohl entsprach dies der Wahrheit, die er ein Leben lang erfahren hat.
„Der modernste Romancier seiner Zeit“
Mit seinem erstaunlichen Literatenleben und seinem fulminanten Werk macht nun Michel Winock bekannt. Seine große Biografie, die in Frankreich bereits 2013 erschienen ist und nun bei uns rechtzeitig vor dem 200. Geburtstag des Dichters am 12. Dezember veröffentlicht wird, erzählt von der Beharrlichkeit eines Genies und von den Widersprüchen eines Menschen.
Es handelt sich ausdrücklich um „die Biografie eines Historikers“, gewidmet dem „modernsten Romancier seiner Zeit“. Das bedeutet im Kern, dass Michel Winock, der 2017 eine Biografie von François Mitterrand veröffentlich hat, immerzu die bewegte politisch-gesellschaftliche Entwicklung in Frankreich im Blick hat: Restauration, Revolution, Kaiserreich, Krieg, Kommune. Das ist spannend und ertragreich – ein lebendiges Porträt von der Wiege bis zur Bahre.
Kindheit mit Blick auf den Obduktionssaal
Die Erzählung kommt sogleich in Fahrt mit der Schilderung der Kindheitsjahre in Rouen, die Gustave mit stetem Blick auf das Krankenhaus verbrachte, in dem sein Vater als Chirurg wirkte. Der Schriftstellerin Louise Colet, seiner zwölf Jahre älteren Freundin, wird er später erzählen: „Der Obduktionssaal des Hôtel-Dieu lag zu unserem Garten hinaus. Wie oft sind doch meine Schwester und ich auf das Spalier geklettert und haben, in den Weinranken hängend, neugierig die aufgebahrten Leichen betrachtet! Die Sonne fiel darauf; dieselben Fliegen, die uns und die Blumen umschwirrten, ließen sich dort nieder, kehrten zurück, brummten!“ Er sehe noch vor sich, fuhr er fort, „wie mein Vater beim Sezieren den Kopf hob und sagte, wir sollen uns trollen.“ Winock schließt daraus, dass Flaubert sehr früh die Endlichkeit des Lebens verinnerlicht habe: „Kaum geboren, stand er mit dem Tod auf vertrautem Fuß.“
Der Vater hatte ihn für eine juristische Karriere vorgesehen. Flaubert fügte sich dem Projekt lustlos. Als er das Studium in Paris aufnahm, wandte er sich lieber dem Schreiben zu als dem Gesetzbuch. Dann spielte ein Zusammenbruch im Jahre 1844 Schicksal: Eine Nervenkrankheit, die mit Epilepsie in Verbindung gebracht wurde, verschaffte ihm den Grund, das Studium aufzugeben. Viele haben sich mit diesem Wendepunkt befasst. In „Der Idiot der Familie“ interpretierte Jean-Paul Sartre den Krankheitsfall als Vatermord: Das Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung zwischen Vater und Sohn sei dadurch aufgelöst worden.
Pendler zwischen Paris und Rouen
Flaubert führte künftig ein Leben zwischen dem trubeligen Paris und dem abgeschiedenen Familiensitz in Croisset bei Rouen. Louise Colet leidet darunter, dass er sich immer wieder aus der Beziehung in die Provinz zurückzieht. Ja, ärger noch: dass sie ihn in Croisset nicht besuchen darf. Er redet sich auf seine Mutter hinaus, die traurig und hypochondrisch sei und seiner Anwesenheit bedürfe. Langsam, aber beharrlich wächst derweil das Werk. Fleiß und Disziplin, so hält es der Schriftsteller fest, sind dabei wichtiger als irgendeine umherschwirrende Inspiration: „Die Inspiration besteht darin, sich täglich zur selben Stunde an den Schreibtisch zu setzen.“
Zu den Leckerbissen der Biografie zählt die luxuriöse Orientreise, die Flaubert mit seinem Freund Maxime Du Camp, einem Fotografen, von Ende Oktober 1849 bis Juli 1851 unternahm. Die Zustimmung der Mutter, die all das finanzierte, war nur mit dem Hinweis eines befreundeten Arztes zu gewinnen. Demnach bedufte der Sohn aufgrund seiner Nervenkrankheit dringend der Wärme und des Lichts eines heißen Landes. Der mütterliche Vorschlag, es doch mit Madeira zu versuchen, konnte abgeschmettert werden. So machten sich die beiden Freunde mit zwei Dienern auf die Reise, die auch geprägt war von einem „hohen Konsum an Prostituierten“. Eines der Kapitel zu diesem Lebensabschnitt trägt den Titel „Sextourismus“.
„Ich werde sie Madame Bovary nennen.“
In Ägypten, am zweiten Nilkatarakt, hat Flaubert angeblich den Ausruf getan: „Ich werde sie Madame Bovary nennen.“ Der Roman, der diese Frau ins Zentrum stellte, sollte ausdrücklich eine „triviale“ Geschichte erzählen. Auch war die offene Einmischungen des Erzählers unerwünscht: „Kein Lyrismus, keine Reflexionen, Persönlichkeit des Autors abwesend.“ Es werde dargestellt und nicht diskutiert – so lautete das progressive Motto der Poetik. George Sand, mit der ihn eine enge Freundschaft verband, warf ihm vor, „nicht seine Meinung zu sagen, dem Leser das Urteil zu überlassen“. Doch Flaubert stand zu seiner modernen Position. Und gewiss nicht zuletzt ging es in seiner Prosa um das richtige Wort, das „mot juste“. Ein guter Prosasatz, so sein Anspruch, müsse wie ein Vers „unersetzbar“ sein.
Bei der Werkanalyse ist hier mit besonderem Nachdruck von der „Education sentimentale“ die Rede. Der Roman wurde auf Deutsch zunächst als „Die Erziehung des Herzens“ und 2020 – in der Übersetzung von Elisabeth Edl – als „Lehrjahre der Männlichkeit“ veröffentlicht (ein Beitrag dazu findet sich auf diesem Blog HIER). Für den Biografen ist das Werk von besonderem Belang als Zeitbildnis wie als Echo einer frühen, womöglich der einzigen Liebe des Schriftstellers: „Der Liebesroman war eine Negation der Liebe; der Roman einer Generation endet in deren Scheitern.“ Ausführlich geht es außerdem um die schon erwähnte „Madame Bovary“, um „Salammbo“, „Die Versuchung des heiligen Antonius“ und das nachgelassene Fragment „Bouvard und Pécuchet“, von dem gesagt wird, dass es die Literaturkritik „bis heute“ verwirre.
„Ich bin nichts weiter als eine literarische Eidechse“
Flaubert selbst war der Ansicht, dass die Persönlichkeit eines Künstlers keine Rolle spiele und nur das Werk zähle. Gleichwohl folgen wir sehr gerne der biografischen Annäherung an einen Mann, der den Dualismus lebte. Einerseits war dieser „homo duplex“ ein Melancholiker und andererseits „ein guter, übermütiger Geselle“, er kritisierte die Bourgeoisie und war doch Teil von ihr, er war ein Freund der Ordnung und ein Feind der Autorität, er lebte wie ein Einsiedler und genoss die Einladungen bei Hofe, für die er sich eine Hose schneidern ließ, „enganliegend“, wie es Mode war.
Ein rundum erfreuliches Werk ist diese Biografie. Auch was die angenehm fließende Übersetzung von Horst Brühmann und Petra Willim angeht, bei der einige wenige Ausflüge ins Hochgestochene (Briefe werden „purgiert“, ein „larvierter Melancholiker“ wird bestimmt) nicht ins Gewicht fallen. Schließlich gibt es noch zwei unerwartete Bonustracks: Ein „Florilegium“ mit Einschätzungen von namhaften Flaubert-Lesern und eine Anthologie mit ausdrucksstarken Flaubert-Zitaten. Darunter auch dieses: „Ich bin nichts weiter als eine literarische Eidechse, die sich den ganzen Tag in der vollen Sonne des Schönen wärmt.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog findet sich eine Würdigung von Elisabeth Edls Neuübersetzung von Flauberts „Education sentimentale“ als „Lehrjahre der Männlichkeit“ – HIER.
Michel Winock: „Flaubert“, dt. von Horst Brühmann und Petra Willim, Hanser, 656 Seiten, 36 Euro. E-book: 30,99 Euro.
