Mathilde im französisch besetzten Marokko: „Das Land der Anderen“ von Leïla Slimani erzählt vom Kampf um Freiheit und Selbstverwirklichung

Marokkanische Straßenszene im vergangenen Jahrhundert Foto: Bücheratlas

In Frankreich gehört die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani zu den wichtigsten literarischen Stimmen des Landes. Inzwischen sind fünf ihrer Bücher auch ins Deutsche übersetzt. Kürzlich erst machte sie mit ihrer Eröffnungsrede zum 21. Internationalen Literaturfestival in Berlin auf sich aufmerksam, als sie riet, „dieser Mode der Cancel Culture“ nicht mehr Bedeutung zuzumessen, als sie habe. Die wahre Cancel Culture sei vielmehr die, „die darin besteht, Buddha-Statuen zu sprengen, in Timbuktu historische Handschriften zu verbrennen, das Kulturerbe Aleppos in Schutt und Asche zu legen oder auf Menschen zu schießen, weil sie in Paris tanzen“. Sie sperre Künstler ein und mache sie mundtot, sie vernichte die Träume von Millionen Frauen, die man daran hindere, zu werden, was sie möchten. „Das ist es, was wir zuerst bekämpfen müssen.“

Smarter Bräutigam mutiert zum herrischen Ehemann

Um das Recht auf Freiheit, auf Leben und Selbstverwirklichung geht es auch in Leïla Slimanis jüngstem Roman „Das Land der Anderen“, einer opulenten Familiensaga, die auf der Geschichte ihrer Großeltern basiert. Im Mittelpunkt des Romans steht Mathilde, eine junge Elsässerin, die sich während des Zweiten Weltkriegs in einen marokkanischen Offizier verliebt. Als sie mit Amine Belhai in dessen Heimatland zieht, wird aus dem smarten Bräutigam schnell ein herrischer Ehemann. Bald wird das erste Kind geboren: Aïcha, ein zartes Mädchen mit blondem Kraushaar und dem wunderlichen Gebaren einer lebenslangen Außenseiterin.

Das Leben auf dem Land ist hart. Nur mit Mühe kann Amine dem steinigen Boden eine erste Ernte abtrotzen, während Mathilde versucht, sich einzufinden in das Leben einer marokkanischen Ehefrau. Einfühlsam schildert Leïla Slimani Mathildes Alltag und ihre oft vergeblichen Bemühungen, sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen, ohne sich dabei selber zu verleugnen. Die Loyalität der jungen Europäerin ihrem Ehemann gegenüber ist trotz allem ungebrochen. „Trotz seiner Misserfolge, trotz Streit und Armut dachte Mathilde nie, ihr Mann sei inkompetent oder faul. Jeden Tag sah sie Amine im Morgengrauen aufstehen, entschlossen das Haus verlassen und am Abend mit erdigen Stiefeln wiederkommen.“

Mischehen werden missbilligt

Noch ist Marokko eine französische Kolonie, Rassismus und Gewalt gegen die Einheimischen sind an der Tagesordnung. Auch Mathilde und ihre Familie werden zur Zielscheibe der französischen Kolonialgesellschaft, in deren Weltbild für eine Mischehe wie die der Eheleute Belhaj kein Platz ist. Vor allem Mathilde ist dem Gespött der örtlichen Damenkränzchen ausgesetzt, und auch Aïcha begreift schnell, dass sie nicht willkommen ist in der französischen Klosterschule, die sie auf den Wunsch der Mutter besucht.

„Das Land der Anderen“ ist der erste Band einer Trilogie, und so darf man sich auf zwei weitere Geschichten über die Familie Belhaj freuen. Der Auftakt jedenfalls ist mehr als gelungen: ein pralles und kluges Stück Literatur über Liebe, weibliche Selbstbehauptung – und eben auch über deren Grenzen im Marokko der 1950er Jahre.

Petra Pluwatsch

Leïla Slimani. „Das Land der Anderen“, dt. von Amelie Thoma, Luchterhand, 380 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro. 

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