Das Mammut, der Nilpferdkönig und die „Dialektik der Aufklärung“: Martin Mittelmeier erzählt die Entstehung des Jahrhundertbuches von Adorno und Horkheimer

Arnold Schönberg machte mit seiner Zwölftontechnik mächtig Eindruck auf Theodor W. Adorno. Hier im Bild die „Zwölftonbox“ – zwölf Karteikarten mit 48 möglichen Reihenformen der Zwölftontechnik für die Oper „Moses und Aron“. Das Objekt aus dem Arnold Schönberg Center in Wien ist derzeit zu sehen in der Ausstellung „In die Weite – Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland“ in Kolumba, dem Kunstmuseum des Erzbistum Köln (bis 15. August 2022). Foto: Bücheratlas

Der Anfang war nicht einfach. Als sich der Philosophiestudent Martin Mittelmeier in den 1990er Jahren an die Lektüre der „Dialektik der Aufklärung“ wagte, war dies zunächst nur eine Quälerei. Denn da musste eine fremde Terminologie mühsam entziffert werden, und da gab es die große philosophische Tradition, die man besser kennen sollte. Viel verstanden hat Mittelmeier eigenen Angaben zufolge nicht, aber immerhin so viel, dass es den Autoren Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) „um nichts weniger als die Gewaltgeschichte der menschlichen Zivilisation zu gehen schien.“ Eindeutig und sofort sprach allerdings der Stil für dieses Werk, die Mächtigkeit der Sätze: „Jeder zweite ist wie in Stein gemeißelt, strahlt unerbittliche Autorität aus.“

„Urgeschichte des Faschismus“

Nun erzählt Martin Mittelmeier, der bei Siedler schon den Band „Adorno in Neapel“ vorgelegt hat, die Geschichte dieses Buches: „Freiheit und Finsternis – Wie die ‚Dialektik der Aufklärung‘ zum Jahrhundertbuch wurde“. Es geht also nicht so sehr darum, die „Dialektik“ zu dechiffrieren, die vielfältige Rezeption zu spiegeln und ihre Aktualität abzuwägen. Vorrang hat die eigentümliche Genesis dieses Grundpfeilers der „Frankfurter Schule“. Es ist 1947, vor bald 75 Jahren, offiziell erschienen.  

Was der verehrte Walter Benjamin mit seinem Passagen-Werk nicht mehr geschafft habe, schreibt Mittelmeier, wollte Adorno für die eigene Zeit leisten: „Die Urgeschichte einer Gesellschaft, die den Faschismus möglich gemacht hat.“ Mit hoher Sensibilität werden in der „Dialektik der Aufklärung“ Phänomene des Alltags beobachtet und gedeutet, um dem großen Ganzen auf den Grund zu gehen. Erörtert werden vor allem Antisemitismus und kommerzialisierte Kultur, Aufklärung und Mythologie (und wieviel von dem einen im anderen steckt).

„Im strengsten Sinne gemeinsam“

Die Entstehung des Buches „eigentümlich“ zu nennen, ist das mindeste, was festzustellen ist. Denn hier arbeiten zwei superhelle Köpfe, die vor dem Nazi-Terror in die USA geflohen sind, „im strengsten Sinne gemeinsam“ (Adorno). Sie diskutieren, diktieren, redigieren – und kommen doch nie an ein Ende. Allerdings sind die „Fragmente“ eines Tages derart gedankengesättigt, dass sie als Mimeographie, eine Art Fotokopie, im Jahre 1944 zum 50. Geburtstag des gemeinsamen Freundes und Kollegen Friedrich Pollock veröffentlicht werden.

Der Titel „Philosophische Fragmente“ wird drei Jahre später, als das Werk im Amsterdamer Querido Verlag als Buch erscheint, zum Untertitel degradiert. Denn zwischenzeitlich hatten sich die Herren einen stärkeren Titel ausgedacht: „Dialektik der Aufklärung“. Auch der Text wird modifiziert: das marxistische Vokabular, hält Mittelmeier fest, wurde neutralisiert. Wo es zunächst um „Proletarier“ gegangen war, ging es nun um „Arbeiter“. Ein Gebot der Vorsicht in einem antikommunistisch alarmierten Nachkriegs-Amerika.

Das Institut für Sozialforschung (IfS) wurde 1923 in Frankfurt gegründet. Zehn Jahre später, nach der Machtergreifung Hitlers, wurde es geschlossen und 1934 an die Columbia University nach New York verlegt. Nach dem Umzug von Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Theodor W. Adorno nach Kalifornien, blieb die Geschäftsstelle dennoch an der Ostküste. Im Jahre 1953 kehrte das Institut nach Frankfurt zurück und bezog einen Neubau an der Ecke Senckenberganlage / Dantestraße – in nächster Nähe zum ersten Sitz. Horkheimer leitete das Institut von 1930 bis 1959, seine Nachfolge trat Theodor W. Adorno an. Das Entstehen der „Dialektik der Aufklärung“ ist aufs Engste mit dem IfS verbunden.  Foto: Bücheratlas

„Mühsal der Textexegese“

Martin Mittelmeiers Erzählung geht selbstverständlich immer wieder auf die Theorie ein. Die ist zwangsläufig schwere Kost. Wenngleich gerade das Hermetische, wie der Autor schreibt, eine Voraussetzung war für die begeisterte Aufnahme durch die Studentenbewegung der 1960er Jahre: „Was leicht zu verstehen war, konnte nicht das echte, jüdische, linke Denken sein, das vom Nationalsozialismus so vehement bekämpft wurde. Die Mühsal der Textexegese war der Initiationsritus in eine Tradition, die umso aufregender erschien, je unverständlicher sie aus der Perspektive der bleiernen Zeit war.“

Doch keine Bange – Mittelmeier bietet jede Menge Entspannungsinseln an. Davon zeugen schon Kapitelüberschriften wie „Philosophen am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Amüsant wird es vor allem, wenn Adorno mal nicht wieder den nächsten intellektuellen Gipfel stürmt, sondern durch die Banalitäten der Ebene zieht. Da legt er ausführlich dar, wie sich er und Ehefrau Gretel ihr Häuschen im kalifornischen Pacific Palisades vorstellen – unter anderem, bitte, zwei Schlafzimmer mit separatem Zugang zum Bad und eine „große Badewanne zum Ausstrecken“.

„Da gab es für Adorno kein Halten mehr“

Als „unerschöpflich“ wird Adornos „Talent zum Beschwärmen weiblicher Schönheit“ kategorisiert. Wenn sich solche Schönheit auch noch mit adeligem Stand verband, wie etwa bei Luli von Bodenhausen, „gab es für Adorno kein Halten mehr“. Eine Neigung hegte der scharfe Denker auch zu Kosenamen: seine Mutter war die „Wundernilstute Marinumba“ und sein Vater „der einzig lebende Hauerwatz“, Horkheimer das „Mammut“ und Gretel die „Giraffe“ beziehungsweise „Gazelle“. Adorno selbst nannte sich Nilpferdkönig Archibald Stumpfnase Kant v. Bauchschleifer. 

Bertolt Brecht, so lesen wir, interessierte sich für das von Horkheimer geleitete „Institut für Sozialforschung“ in Kalifornien nur insofern, als es zu seinem „Vorhaben eines satirischen Intellektuellenromans gepasst“ habe. Schade, dass daraus nichts geworden ist. Dass sich die deutschen Exilanten nicht alle grün waren, ist bekannt. Das gilt auch für die Instituts-Mitarbeiter. Friedrich Pollock schreibt 1941 vertraulich über Adorno: „Hassen tut ihn niemand, außer Löwenthal, aber er wird wegen seiner ungeheuern Unaufrichtigkeit, Eitelkeit und Wichtigmacherei verachtet.“

Hannah Arendt als Botin

In solche Beziehungskisten blickt Martin Mittelmeier mit willkommener Hingabe. Und da steht einiges zu Gebote: Hannah Arendt bringt widerwillig ein Manuskript von Walter Benjamin vorbei, Hanns Eisler ist komisch und mitreißend, Charlie Chaplin spielt Klavier, Thomas Mann bittet um Unterstützung beim „Doktor Faustus“ und Arnold Schönberg findet mit seiner Zwölftontechnik große Beachtung. Allerdings hält Adorno fest: „Die Schönberg’sche Leistung ist mit einem Maß an Unmenschlichkeit bezahlt, das jede Beziehung zu ihm äußerst schwierig macht.“

„Freiheit und Finsternis“ ist somit nicht nur die Erzählung eines Buches. Auch wird hier schlaglichtartig die Emigrantenszene beleuchtet. Dass es nicht um die Breite geht, versteht sich, also nicht um all die vielen weniger oder gar nicht Berühmten, die vor Nazi-Deutschland fliehen mussten, sondern um eine kleine Schar aus Kunst und Wissenschaft. Darunter sind dann auch noch Franz Werfel, Herbert Marcuse, Georg Kreisler. Das alles ist lehrreich und kurzweilig.

Nicht zuletzt macht Martin Mittelmeier Mut, sich erstmals oder wieder einmal an der „Dialektik der Aufklärung“ zu versuchen. Falls die Lektüre zu mühsam werden sollte, wissen wir ja, dass wir nicht die ersten sind, die diese Erfahrung machen.

Martin Oehlen

Martin Mittelmeier: „Freiheit und Finsternis – Wie die ‚Dialektik der Aufklärung‘ zum Jahrhundertbuch wurde“, Siedler, 320 Seiten, 24 Euro. E-Book: 22,99 Euro.

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