Ein Kater trifft Robespierre, mutiert im Kongo zum Leoparden und diskutiert mit Andy Warhol: Michael Köhlmeiers turbulenter Wälzer „Matou“

Wäre Matou ein Tischtennisspieler, der jedem chinesischen Superstar die Bälle um die Ohren fetzte, würde uns das auch nicht mehr wundern. Das müsste uns ja nur mal einer erzählen. Wir sind übrigens nicht sicher, ob die Katze auf unserem Foto ein Kater ist. Sicher sind wir allerdings, dass es sich nicht um Matou handelt, denn der hat kupferrotes Fell, eine weiße Schwanzspitze und weiße Tupfen an den Pfoten. Aber schön ist auch dieses Geschöpf. Foto: Bücheratlas

Also spricht Matou: „Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachfolger finden werde.“ Wer bei diesen Worten denkt, da blase einer ganz schön die Backen auf, dem kann man das Zweifeln nicht verdenken. Allerdings sorgt der folgende Satz dafür, dass alles spöttische Grinsen gefriert: „Ich will dir einen Kater in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Kater werde ich selber sein.“ Ja, so sieht es aus: Matou sagt Ich. Er ist ein Kater, der sprechen, lesen und mit seiner tintenblauen Kralle schreiben kann.

Sieben Leben sind ein Vorteil

Er selbst verrät fast genau in der Mitte der 960 Seiten, worum es ihm in seinen Memoiren geht: „Die Aufklärung aus der Sicht eines Katers von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart.“ Dabei kommt Matou zugute, dass Katzen sieben Leben haben. Nach kontinentaleuropäischer Zählung. Im Angelsächsischen, das teilt er ohne Neid mit, seien es sogar neun Leben. Die Zeitreise führt zu spannenden Orten. Und zu besonderen Menschen, historisch nachweisbaren wie Robespierre oder Muddy Waters, und frei erfundenen wie Katze Biondetta oder Floh Peregrinus. Dass mancher Mensch nicht übel staunt, wenn er von Matou angesprochen wird, birgt notabene viel amüsantes Potenzial.

Michael Köhlmeiers monumentales Epos, umfänglicher noch als sein 780-Seiten-Wälzer „Abendland“, hätte auch für sieben Buch-Veröffentlichungen gereicht. Oder für drei – wie es wohl einmal vom Verlag in Erwägung gezogen worden ist. Sein „Matou“-Brocken bezeugt, wie da einer vom Erzählen und Weitererzählen und Noch-etwas-erzählen nicht lassen kann. Die vielen Vorlagen der Historie greift er auf, spinnt sie aus, verleibt sie ein. Es herrscht ein geradezu Jean Paulscher Überfluss an Stoff und Stöffchen.

Das Blut unter der Guillotine

Matous Memoiren setzten ein im Jahre 1792 in Paris, als er im Haushalt des Revolutionärs Camille Desmoulins unterschlüpft, der dann leider sehr bald zur Guillotine geführt wird. Betroffen leckt Matou sein Blut. Als er dann selbst aus dem Leben scheidet, ist es natürlich nur ein erster Tod. Ihm folgt ein obligatorischer Zwischenstopp im Katzen-Jenseits, genannt „das Weggemachte“. Und schon geht es neugeboren weiter. Die sechsmalige Auferstehung erlaubt den Hinweis, dass „der Herr Jesus Christ eine gewisse Verwandtschaft mit uns Katzen“ habe.

Im Jahre 1814 gelangt Matou in die Obhut von E.T.A. Hoffmann in Berlin, dem er wichtige Anregungen zu den „Lebens-Ansichten des Katers Murr“ gibt.  Im dritten Leben landet er auf der griechischen Katzeninsel Hydra, im vierten mutiert er im belgisch besetzten Kongo zum Leoparden, im fünften trifft er in Prag Franz Kafkas Affen Rotpeter. Schließlich sitzt er auf dem Schoß von Andy Warhol. In des Künstlers Factory kommt es zu einer spektakulären Diskussionsrunde, bei der Matou mächtig Eindruck macht auf Susan Sontag und Noam Chomsky. Ein Spitzenszene. Und das siebte Leben? Da steckt der Erzähler gerade drin – einen jungen Mann coachend, im Wiener Gemeindebezirk Döbling die Nähe von Dame Ingeborg Novak suchend und an seinen Memoiren schreibend. Dann fällt der Vorhang. 

Was versteht eine Katze unter einem Problem?

Matou ist die Verkörperung der Aufklärung. Er ist wissbegierig bis in die feinste Katzenhaarspitze. Kritisch befragt er sich und befragt er uns. Kräftig schlägt seine philosophische Ader: Warum tun Menschen Gutes? Was versteht eine Katze unter einem Problem? Was ist Charisma? Seine Literaturlisten, die über diese Memoiren verteilt sind, sind exquisit. Auch die darin geernteten Lesefrüchte gebieten Respekt.

Allemal geht es Matou darum zu verstehen, was der Mensch ist. Bald schon ist er sich sicher, dass er selbst kein Mensch sein will, sondern wie ein Mensch sein will. Auf den kleinen Unterschied des „wie“ macht er mehrfach aufmerksam. Der Kater bleibt also ein Kater. Ein Tier. Alle Aufklärung ändert nichts an der Lust am spielerischen Jagen und Töten. Salamander – dies für den, der es noch nicht weiß – sind nicht so lecker beim Totbeißen: „scheußlicher Geschmack“. 

Lieber singen als schreiben

Michael Köhlmeiers Roman bietet auch einige typographische Auffälligkeiten. Foto: Bücheratlas

Matou liebt das Leben so sehr, dass er manchmal lieber singen als schreiben möchte. Das tut er dann auch. Nicht nur, wenn es ihm heiter ums Herz ist, nein, auch wenn Betrübnis vorherrscht, wechselt er zum Lied. Selbstverfasstes und Übernommenes – wie es halt kommt. Einmal entscheidet er sich für Lou Reed: „Sometimes I feel happy, / Sometimes I feel so sad.“

Er ist halt ein genialer Kater, gebildet und talentiert. So interessiert er sich für das Hegel-Seminar von Herrn Professor Liessmann, also eben jenes hegelkundigen Professor Liessmann, mit dem Michael Köhlmeier schon zwei „mythologisch-philosophische“ Bücher veröffentlicht hat. Überhaupt erlaubt sich Michael Köhlmeier da und dort das Spiel mit der eigenen Biografie. Seine schon einige Male in Erscheinung getretene Prosafigur Sebastian Lukasser findet hier eine lobende Erwähnung für den Satz „Die Wahrheit wird überschätzt“. Auch stellt Matou fest, dass man über Charlie Chaplin und Winston Churchill einen Roman schreiben könnte, den Michael Köhlmeier selbst mit „Zwei Herren am Strand“ bereits veröffentlich hat.

Novellen-Anfang gegen Roman-Ende

Die kühnste Volte: Matou beginnt eine Novelle über Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, diesem Polit-Paar der europäischen Versöhnung, von der wir annehmen, dass sie einmal ein Buch von Michael Köhlmeier werden könnte. Die Novelle bricht bereits nach vier Seiten ab. Aber darunter steht: „Fortsetzung soll folgen!“ Und wo wir gerade bei den Funfacts sind: Den schlanken Kater auf dem Cover hat Ehefrau Monika Helfer gezeichnet. Die Widmung, die die Schriftstellerin ihren Romanen „Die Bagage“ und „Vati“ vorangestellt hat, greift er nun auf: „Für unsere Bagage“. Die Hauskatze ist sicher mitgemeint.

Erst wenige Wochen ist es her, da hat Michael Köhlmeier den schmalen Band „Gedankenspiele über das Gelingen“ vorgelegt – HIER nachzulesen. Welche Freude es macht, wenn etwas gelungen ist, lässt sich nun  auch bei diesem dicken Brocken erfahren. „Matou“ macht gute Laune.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog finden sich zahlreiche Beiträge von und über Michael Köhlmeier und Monika Helfer, die alle leicht auffindbar sind über die Suchmaske.

Zuletzt erschien eine Besprechung von Michael Köhlmeiers „Gedankenspiele über das Gelingen“ – und zwar HIER.

Monika Helfers zu Jahresbeginn veröffentlichter Roman „Vati“ ist HIER zu finden.

Michael Köhlmeier: „Matou“, Hanser, 960 Seiten, 34 Euro. E-Book: 28,99 Euro.

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