
Mit einer Störung geht er los, der 45. Bachmannwettbewerb am Donnerstagmorgen. Gerade erscheint Julia Weber, die erste von 14 Teilnehmenden (neun Frauen, vier Männer), hinter einem auffällig unauffällig mit Büchern dekorierten Tisch, da bricht bei 3sat die Leitung aus Klagenfurt zusammen. Nach einigen Minuten, die mit Alpen-Bildern überbrückt werden, geht es dann los, wie es losgehen sollte. Mit dem alljährlichen Literaturpreislesen am Wörthersee. Noch einmal ohne Autorinnen und Autoren, deren Lesungen vorab aufgezeichnet worden sind. Ebenfalls noch einmal ohne Publikum im Studio.
Doch die Jury tagt diesmal, anders als im Vorjahr, live vor Ort. Neue Vorsitzende ist Insa Wilke, überdies neu in der Runde sind Maria Delius und Vea Kaiser. Außerdem wieder dabei: Klaus Kastberger, Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler und Michael Wiederstein. Vertraut souverän moderiert Christian Ankowitsch – so der Eindruck vom ersten der drei Tage – die kulturelle Fernseh-Großtat auf 3sat.
Wie immer ist der Bachmannpreis auch in diesem 45. Jahr nicht nur ein Wettbewerb der Autorinnen und Autoren, sondern auch einer der Kritikerinnen und Kritiker. Das Reizklima ist sogleich zu spüren. Mit so schönen Einlassungen wie einem impulsiven „Ach, das ist doch Quatsch!“ (Vea Kaiser) oder einem ironischen „Oh, welch origineller Gedanke!“ (Insa Wilke).
Aber blicken wir auf die Literatur. An dieser Stelle gibt es die jeweiligen Einstiegssätze aus den Texten des ersten Tages. Die kompletten Beiträge finden sich unter bachmannpreis.orf.at
Martin Oehlen
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Julia Weber: „Ruth“
Wenn ich hinausgehe und die Türe hinter mir schließe, wenn ich durch das dunkle, enge Treppenhaus, die Stufen hinuntersteige, wenn ich dann auf die Straße trete, glänze ich bis in die Menschen hinein.
Bist du aus Milch?, hat einer mich gefragt. Bist du wirklich, oder habe ich mir dich gewünscht? Erfunden?
Ich bin wirklich, sage ich, ich bin Ruth, und wenn ich bei den Menschen bin, dann wird es Sommer in ihnen.
Und zu der Frau, die sich trägt, als wäre sie eine Tasche voller schmutziger Wäsche auf dem Weg zur Wäscherei, sage ich: Komm zu mir.
Komm mit, sage ich zu ihr.
Heike Geißler: „Die Woche“
Wir sind dumm, doof und dämlich.
Wir sind zu nichts zu gebrauchen.
Wir sind komplett out of order.
Wir merken ja gar nichts.
Wir merken alles, aber trauen unseren Sinnen nicht.
Wir verstehen uns selbst nicht, würden aber auch nicht behaupten, dass es ein
Anrecht darauf gibt, sich selbst zu verstehen.
Necati Öziri: „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“
Wenn du das hier liest, Papa – und hier stocke ich schon. Soll ich dich so nennen? Ich weiß, dass Aylin dich so nennt, wenn sie von dir erzählt – wirklich nur ganz selten, bilde dir jetzt nichts ein. Aber anders als mich habt ihr Aylin auch noch lachend zwischen euch fliegen lassen, eine Hand du, eine Hand Mama und dann hoch. Sowas erzählt sie mir manchmal, wenn sie und ich einen guten Moment haben. Und wie diese Erinnerung hat Aylin auch das Wort „Papa“ noch aus dieser Zeit. Sie hat es gelernt, als wäre es ein ganz gewöhnliches Wort. Bei mir ist es anders. Ich hab‘s oft ausprobiert: Papa? Vater? Baba? Das Wort auszusprechen, ist gar nicht so schwer, nur danach geht es nicht mehr weiter. Merkwürdiger noch als „Papa“ zu sagen, ist: Es mich sagen hören. Es klingt wie ein Fremdwort, das ich irgendwo aufgeschnappt oder nachgelesen habe. Wenn ich es benutze, klingt es gespielt. Wie sagt man „Papa“, ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Bis ich eine Antwort habe, bleibe ich bei Murat. Also: Wenn du das hier liest, Murat, werde ich schon tot sein.
Magda Woitzuck: „Die andere Frau“
Ihr Mann ist ein langsamer Esser. Er isst, als wäre es eine Aufgabe, die er zu erledigen hat, links hält er die Gabel, rechts das Messer, er kaut gründlich und lange. Er macht den Eindruck, er würde beim Essen intensiv über etwas nachdenken, aber sie sind beinahe dreißig Jahre verheiratet und Judith weiß, dass es nicht so ist. Mit der Gabel zerdrückt Stefan die letzten Kartoffeln auf seinem Teller zu Brei und salzt nach.
Katharina J. Ferner: „1709,54 Kilometer“
Mir träumt: hundertsechzig Hektar Rennstrecke. Eine Treibjagd durch Schönbrunn. Die Eichhörnchen bleiben vorsorglich auf den Bäumen. Eine paar Studentinnen haben einen Fuchs gesichtet, in Laufschuhen machen sie sich auf den Weg. Die Kieselsteine spritzen in alle Richtungen. Zooesel und Kutschpferde scharren nervös mit den Hufen. Ich sehe die Meute von der Gloriette aus kommen, ein wilder Haufen, der so gar nicht in die idyllische Aussicht passt. Es stimmt, ich habe den Fuchs im Labyrinth gesehen, werde ihn den Jägerinnen aber sicher nicht verraten. Sie sind mit Wasserpistolen und Keschern bewaffnet und rücken stetig näher. Der Weg auf den Hügel macht ihnen sichtlich zu schaffen. Keuchend kommen sie an, ein Teil der Munition geht für die gegenseitige Abkühlung drauf. Der Fuchs wird leichtes Spiel mit ihnen haben. Ob sie wissen, wie so ein Tier aussieht? Wie scheu es sich verhält, wenn es von Menschen aufgestöbert wird? Von einer Studentin erfahre ich, dass dies nicht ihr erster Ausflug ist. Das Programm ist Teil ihrer Ausbildung; ein Seminar, das die Studierenden dem Leben in der Großstadtwildnis näherbringen soll. Tiere aufzuspüren ist eine ihrer Aufgaben. Sie haben sich zuvor gegen Tollwut impfen lassen. Der Fuchs lässt sich selbstverständlich nicht blicken. Es ist eine Kohlmeise, die letztlich dran glauben muss.
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Auf diesem Blog
finden sich auch die ersten Sätze vom letztjährigen Bachmannpreis – unter anderem HIER .