
Das Kraut der Unsterblichkeit ist eine echte Verlockung. Schon vor über 2000 Jahren schickte der Kaiser von China eine Expedition aus, die unter Leitung eines gewissen Xu Fu auf den Inseln am fernen Horizont nach diesem Kraut suchen sollte. Doch Xu Fu, der 221 vor Christus aufgebrochen war, kehrte nie mehr nach Hause zurück. Mag sein, dass Xu Fu Schiffbruch erlitten hat, mag auch sein, dass er seinen Lebensabend in der Fremde verbringen wollte. Gewiss ist jedenfalls, dass es sich hierbei um einen der frühesten Kontakte zwischen China und Japan gehandelt hat. Der ist offenbar unvergessen. Als Chinas Staatspräsident Deng Xiaoping 1978 Japan besuchte, stellte er sich in eine Traditionslinie mit Xu Fu.
Kai Vogelsang, Sinologe an der Universität Hamburg, erzählt nun die gemeinsame Kulturgeschichte dieser beiden Reiche. Es geht also nicht nur um Politik und Wirtschaft, das auch, aber vor allem darum, wie sich die beiden Länder gegenseitig befruchtet haben. Trotz aller Krisen und Kämpfe. Eins steht fest: Sie liebten und sie hassten sich. Bis heute. Mal war der eine kulturell-wirtschaftlich-politisch tonangebend und mal der andere.
Den Tiefpunkt der Beziehungen markiert Japans Invasion in China im Jahre 1937, in deren Verlauf es zu extremen Grausamkeiten kam: „Bei der ‚Vergewaltigung von Nanjing‘ wurden mindestens 20.000 Frauen geschändet und insgesamt 200-300.000 Menschen massakriert.“ Doch noch „in der schwärzesten Stunde“, schreibt Vogelsang, „zeigte sich, dass die kulturellen Bindungen zwischen Japan und China nicht vollständig zerrissen waren.“ Und heute? Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sorgt für Spannungen zwischen den Ländern. So bei dessen Darstellung in Schulbüchern oder bei Feierlichkeiten am Yasukuni-Schrein, wo Japan seiner gefallenen Soldaten gedenkt. Gleichwohl – trotz aller Differenzen sind die wirtschaftlichen Beziehungen weiterhin sehr eng.

Die Darstellung einer solch langen und komplexen Beziehungskiste ist eine Herausforderung. Vogelsang meistert sie mit souveränem Schwung. Seine Ausführungen mäandern nicht im Akademismus, sondern locken mit einer leicht verständlichen Aufbereitung. Sie zielen auf die großen Linien und verlieren sich nicht in allen möglichen Zeitfalten. Trotzdem ist an aussagekräftigen Details kein Mangel. Dazu gehört, dass die marxistische Theorie nicht aus Russland nach China eindrang, sondern aus Japan. Japanische Übersetzungen aus dem Deutschen oder Russischen gelangten in die Hände des Journalisten Chen Puxian, der darüber in der Pekinger „Morgenpost“ berichtete. So wurde der Boden für den Maoismus bereitet. Vogelsang stellt fest: „Ohne die japanischen Vorarbeiten wäre die Einführung des Marxismus in China in jener Zeit unvorstellbar gewesen.“
Reizvoll ist die durchgängige Würdigung der Künste, zumal der literarischen Strömungen in beiden Ländern. Auch auf diesem Feld ging es hin und her. Die großen Romane der Ming Zeit, die im 16. und 17. Jahrhundert in China erschienen, wurden in Japan zu Bestsellern. Später dann wurden die 1920er Jahre „zu einer goldenen Zeit der literarischen Beziehungen“: der japanische Ich-Roman, das Genre des „shishosetsu“, wurde von der chinesischen Literatengruppe „Kreative Gemeinschaft“ begeistert aufgegriffen. „Nicht die Stringenz der Erzählung stand im Mittelpunkt der shishosetsu“, lesen wir bei Vogelsang, „sondern die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit des Subjekts.“
Eine solche sino-japanische Kulturgeschichte hat es in deutscher Sprache noch nicht gegeben. Dass die kurzweilige Untersuchung sehr zu begrüßen ist, muss kaum betont werden. Das Thema klingt wie ein Special-Interest-Titel für Fachleute. Tätsächlich aber ist dies ein vorzügliches Lese-Angebot für alle, die an Geschichte und Gegenwart interessiert sind. Zumal an der Weltbedeutung der Region im Fernen Osten heute weniger denn je gezweifelt werden kann. Außerdem soll im Fernen Osten ja irgendwo das Kraut der Unsterblichkeit wachsen.
Martin Oehlen
Kai Vogelsang: „China und Japan – Zwei Reiche unter einem Himmel“, Kröner Verlag, 506 Seiten, 28 Euro.

Das Kraut der Unsterblichkeit heißt Jiaogulan, oder Gynostemma pentaphyllum, es wächst in u.a. in den Bergen Südchinas, wo die Menschen legendär uralt werden, weil sie es als Tee trinken, soll natürlich saugesund sein, ist hier aber nicht offiziell als Nahrungsmittel erhältlich. Meines auf dem Balkon kränkelt auch schon.
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Was für ein Hinweis! Danke! Aber warum kränkelt es, das Kraut? Klima? Herzlich grüßend, M. Oe.
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keine Ahnung warum, es hat im riesigen Topf beim Kreuzberger Galata Café wie verrückt gewuchert. Ich hoffe nun, dass es nur die Jahreszeit ist, Danke im übrigen auch für den sehr schönen Buchhinweis!
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