
Alberto Giacometti (1901-1966) war nicht der zurückgezogen lebende Künstler, als der er zuweilen angesehen wird. Womöglich war und ist diese Sichtweise durch einen Brief von Simone de Beauvoir beeinflusst worden. Nachdem sie den Künstler 1947 in seinem Atelier in Paris besucht hatte, hielt sie in einem Brief ihre Eindrücke fest: Es sei zum Fürchten gewesen, wie der Schweizer in einem kalten und leeren Hangar lebe. Seine Kleidung, seine Hände und sein dickes Haar seien überdeckt gewesen vom Gips, mit dem er seine Figuren modelliere.
Das Bild des Einzelgängers, der fernab von den aktuellen Diskursen seine Werke schuf, versucht nun eine Ausstellung im Moderna Museet zu modifizieren. Die Kuratoren Jo Widoff und Christian Alandete zeigen im Kunstmuseum in Stockholm den Künstler im Austausch mit drei großen Literaten – mit Georges Bataille, Jean Genet und Samuel Beckett. Da das Virus derzeit den Besuch der Ausstellung „Alberto Giacometti – Face to Face“ verhindert, ist der im Hirmer Verlag vorliegende Katalog ein besonderes Gut. Allerdings gibt es nur eine englischsprachige Ausgabe.
Aus Stampa im schweizerischen Bergell kommend, hatte sich Giacometti 1926 endgültig in Paris niedergelassen. Dort fand er Kontakt zu Georges Bataille und dessen Avantgarde-Magazin „Documents: Doctrines, Archéologie, Beaux Arts, Ethnographie“. Schon der Titel deutet darauf hin, dass es den Herausgebern – darunter auch Michel Leiris – darauf ankam, weit über den Tellerrand der etablierten Kunst hinauszuschauen. Giacometti war der erste lebende Bildhauer, der in dieser Zeitschrift porträtiert wurde.
Mit Samuel Beckett verband ihn der Zweifel an den Möglichkeiten der Kunst, die Neigung zur Reduktion und – wie es im Katalog heißt – „zur puren Existenz“. Aufgeben war trotz aller Rückschläge weder für den einen noch den anderen eine Option. Einmal arbeiteten die beiden sogar zusammen: Giacometti entwarf für eine Aufführung von Becketts „Warten auf Godot“ im Jahre 1961 das Szenenbild – es bestand allein aus einem kargen Apfelbaum. Die Aufnahmen von Beckett und Giacometti beim Betrachten des Baums sind eine Wucht.
Schließlich Jean Genet. Giacometti traf ihn ein erstes Mal 1954. Er porträtierte den Kollegen mehrfach und gestaltete das Buchcover zu dessen Theaterstück „Le Balcon“. Genet seinerseits schrieb „L’Atelier d’Alberto Giacometti“. Dabei handelt es sich nach Ansicht der Schriftstellerin und Genet-Expertin Agnès Vannouvong um „einen der größten Essays über moderne Kunst“ und um den „schönsten und intimsten“ Text, den Genet je geschrieben habe. Die beiden so unterschiedlichen Künstler hätten einander gefunden, meint sie, in ihrer Einsamkeit und Verletzbarkeit.
Ein Katalog für Fans ist das. Für Fans der suchenden Kunst des Alberto Giacometti, dessen Figuren im Raum mit ihrer Dünnleibigkeit oder auf der Leinwand unter all den kreisenden Strichen zu verschwinden scheinen – die aber dadurch in Wahrheit umso klarer auftreten. Dass diese Kunst einige Parallelen aufweist zur Literatur ihrer Zeit, offenbart dieser Band in seinen Aufsätzen und Dokumenten und besonders eindrucksvoll anhand zahlreicher, zumal historischer Aufnahmen.
Martin Oehlen
Ein weiterer Beitrag über Alberto Giacometti findet sich auf diesem Blog. Darin geht es um das Tagebuch, das Isaku Yanaihara geführt hat – Modell und Gesprächspartner des Künstlers. Der Link ist – HIER .
Jo Widoff und Christian Alandete (Hg.): „Alberto Giacometti – Face to Face“, Katalog in Englisch zur Ausstellung im Moderna Musseet in Stockholm, Hirmer Verlag, 252 Seiten, 39,90 Euro.
