
Markierungsstein am Ortseingang von Stampa im Bergell, im Kanton Graubünden in der Schweiz: Alberto Giacometti wurde an diesem Ort am 10. Oktober 1901 geboren – genau genommen in Borgon(u)vo, das zu Stampa gehört, in der fusionierten Gemeinde Bregaglia. Fotos: Bücheratlas
Am frühen Nachmittag ist Alberto Giacometti (1901–1966) begeistert: „So weit war ich noch nie. Heute habe ich den Mut, der mir sonst aus unerfindlichen Gründen fehlt. Ich hätte nicht gedacht, dass man so frei sein kann.“ Doch die Euphorie des Künstlers, der sein Modell mit blutunterlaufenen Augen fixiert, währt nicht lange. Bald schon zaudert und zetert er: „Ihre Nasenspitze, ich kriege sie einfach nicht hin. Ach, wenn ich doch nur ein bisschen, ein klein bisschen mehr Mut hätte, Scheiße!“
Der Japaner Isaku Yanaihara (1918 – 1989) schildert diese duchr und durch typische Episode in seinem Tagebuch „Mit Giacometti“, das jetzt erstmals auf Deutsch erscheint. Es ist eine großartige, berührende, lehrreiche Nahaufnahme des Künstlers. Sie zeigt ihn bei der Arbeit, nicht zuletzt beim Scheitern und beim immer wieder aufs Neue beginnen: „Ich darf nicht aufgeben, ich muss weitermachen.“ Oft sieht sich Giacometti kurz vor dem Durchbruch. Dann wieder verzweifelt er, kann die Hand nicht mehr zur Leinwand führen, bricht in einem Falle sogar in Tränen aus. Doch Aufgeben ist keine Option.
Wie Sisyphos wälzt er Tag für Tag und bis in die Nacht den Stein bergauf. Nie wähnt er sich auf dem Gipfel angekommen. Wieder und wieder übermalt er am Ende eines Tages, was er in vielen Stunden zuvor geschaffen hatte. Fast wundert es einen, dass dennoch zahlreiche Werke überliefert sind, die Giacomettis großartige Kunst bezeugen. Diese schmalgestaltigen Figuren und die im Bild sich auflösenden Gesichtszüge – sie zeigen auch eben jenen Isaku Yanaihara. Der Japaner hatte ihm so oft Modell gesessen wie sonst nur noch des Künstlers Mutter, Ehefrau und Bruder Diego.
Der Philosophie-Experte, Lyriker und Kunstkenner Yanaihara, der als Stipendiat nach Paris gekommen war, saß dem Künstler aus Graubünden erstmals 1956 Modell. Dann immer wieder. In 228 Sitzungen zwischen 1956 und 1961. Im kalten Atelier, „das einem verfallenen Schuppen ähnelte“, in der Rue Hippolyte-Maindron 46 im 14. Pariser Arrondissement. Starr auf einem Hocker sitzend, in Anzug und Krawatte. Zurück im Hotel, machte er sich regelmäßig Notizen, gewissenhaft und fern von Eitelkeit. Entstanden ist dabei ein einzigartiger Werkstattbericht und ein liebevolles Künstler-Porträt.

In der Brasserie Lipp in Saint-Germain-des-Prés aßen Isaku Yanaihara und Alberto Giacometti nicht selten zu Abend bzw. zur Nacht. Fotos: Bücheratlas
Giacomettis Ringen um das ideale Bildnis, das letztlich unerreichbar ist, führt zu bizarren Szenen. Mehr als einmal verschiebt der Japaner, des Künstlers stilles Sehnen erkennend, seine Abreise nach Japan. Jedes Mal, wenn Giacometti noch ein paar Tage mehr gewinnt fürs Porträtieren, ist er voll des Glücks. Yanaiharas Gesicht im Raum zu porträtieren, ist für ihn zu einer Aufgabe geworden, an der sich seine Kunst beweisen soll. Er will ein realistisches Abbild schaffen, wobei er nicht auf das Äußere des Menschen zielt, sondern auf dessen Wesen.
Yanaihara muss dann eines Wintertages im Jahre 1956 doch nach Japan zurückfliegen. Aber er kehrt in den folgenden Jahren immer wieder nach Paris zurück. Dass darunter seine Karriere als Hochschul-Professor leidet, die – wie es im Nachwort heißt – glänzend begonnen hatte, ist nachweisbar. Aber auch seine Familie wird über die langen Abwesenheiten wenig erfreut gewesen sein. Doch davon liest man fast nichts im Tagebuch.
Wohl aber beteuert Yanaihara, was für „ein Abenteuer“ die Jahre mit Giacometti waren: „Ich ging nirgendwo hin, sah mir nichts an, ich unternahm nichts, sondern saß einfach nur endlos da. Dann reiste ich völlig erschöpft nach Japan zurück. Man kann das natürlich absurd finden. Aber genau diese absurde Geschichte war es wert, mich ihr mit ganzer Leidenschaft zu widmen.“ Das bestätigt er auch noch einmal im Jahre 1960, als er zwei Monate Modell saß – und in dieser Zeit weder ein Gemälde noch eine Skulptur fertiggestellt worden ist. Doch Yanaihara beteuert, dass er es wieder täte: „Ich würde tausend Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, nur um regungslos dazusitzen.“
Er war dem Künstler nicht nur ein faszinierendes Modell, sondern auch ein kompetenter Gesprächspartner. Zu diesem Austausch fand sich allemal Gelegenheit. Vor allem nach den Sitzungen, wenn es auf Mitternacht zuging und man aufbrach, um in Montparnasse oder in der Brasserie Lipp in Saint-Germain-des-Prés zu Abend zu essen. So süchtig sich Giacometti seiner Kunst hingibt, so humorvoll und einnehmend ist er als Zeitgenosse. Seine Prominenz öffnet auch dem Japaner manche Türe. Jean-Paul Sartre besucht er in dessen Arbeitszimmer. Den Dichter Tristan Tzara trifft er im Café Flore, Simone de Beauvoir und Claude Lanzmann im La Coupole. Jean Genet kommt gelegentlich im Atelier vorbei.

Jean-Paul Sartres Wohnung in der Rue Bonaparte 42 in Paris. Isaku Yanaihara hat den Schriftsteller hier besucht. Im Buch nennt er als Adresse die Place Saint-Germain-des-Prés, die gleich links um die Ecke ist.
Bei den Nachtschwärmereien durch die Restaurants und Bars der Metropole war Annette fast immer dabei. Eines frühen Morgens im Jahre 1956 kehrt sie nicht mit dem Ehemann heim, sondern begleitet den Freund des Hauses in dessen Hotel. Von dieser Liebesaffäre, die in den folgenden sechs Wochen bis zur Abreise gepflegt wird, erfährt Giacometti umgehend. Von Annette. Und er ist begeistert. Dem leicht irritierten Yanaihara erläutert er seine Ehe-Philosophie: „Nichts liegt mir ferner, als eifersüchtig zu sein.“ Eifersucht sei etwas für jene, die den Partner als Besitz betrachteten. Er habe Annette geradezu zu einer Affäre geraten: „Denn ohne eine Affäre ist sich eine Frau im Allgemeinen nicht sicher, ob sie aus freiem Willen mit ihrem Mann zusammen ist oder nicht.“
Allerdings durften die Kapitel, in denen Yanaihara diese „Ménage à trois“ schildert, lange nicht erscheinen. Annette Giacometti hatte 1971 dafür gesorgt, dass der Vertrieb verboten wurde. Später erschien das Werk nur in einer gekürzten Version. Nun aber liegt es wieder komplett vor. Das ist ein Glück. Denn selten wird einem ein solcher Werkstattbesuch ermöglicht. Was Sartre über Giacometti sagt, aufgezeichnet von Yanaihara, das bezeugt dieses Tagebuch Seite für Seite: „Er wird niemals zufrieden sein. Darin liegt seine Größe.“
Martin Oehlen
Isaku Yanaihara: „Mit Alberto Giacometti – Ein Tagebuch“, Piet Meyer Verlag, 254 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 42 Euro.
Das neue „Institut Giacometti“, in dem die Rekonstruktion des Ateliers des Künstlers zu sehen ist, befindet sich im Pariser Viertel Montparnasse (Rue Victor Schoelcher 5). Es wurde im Juni eröffnet. Besichtigungen sind nur nach Online-Anmeldung möglich.