
In der Sicherheitszentrale von Notre-Dame in Paris wird der erste Feueralarm um 18.18 Uhr ausgelöst. Doch der Angestellte, der den Posten noch nicht lange innehat, glaubt an einen Fehlalarm. Um 18.42 Uhr ertönt die Sirene erneut. Nun läuft der Mann die 300 Stufen zum Hauptdachstuhl hinauf und öffnet die Türe: „‘Der Wald‘, wie der Dachstuhl aus 1300 Eichenbalken genannt wird, die meisten davon aus dem dreizehnten Jahrhundert, wird ungehindert von den Flammen verzehrt.“ Der Alarmanruf erreicht die Feuerwehr um 18.48 Uhr – eine halbe Stunde nach dem ersten Alarm in Notre-Dame.
Agnès Poirier schildert die Katastrophe vom 19. April 2019 packend und detailliert im Stil einer Reportage. Im Zentrum stehen dabei die Denkmalschützer Marie-Hélène Didier und Laurent Prades, der Architekt Philippe Villeneuve und der Feuerwehr-Chef Jean-Claude Gallet. Ihnen folgt sie gleichsam auf den Fersen. Sieht man einmal ab vom überforderten Sicherheitsmann, singt Poirier hier das Loblied auf die Helfer. Nicht zuletzt auf die ihrer Ansicht nach außergewöhnlich leistungsstarke Feuerwehr von Paris, die nicht vergleichbar sei mit der anderer Metropolen wie London und New York.
Der Code für den Tresor
Die Französin, die auch als Journalistin für britische Tageszeitungen arbeitet, hat dramatische Momente rekonstruiert. Da gibt es einige Spannungsszenen.
So auch diese, als Laurent Prades, der Denkmalschützer für Notre-Dame, ins Innere der Kathedrale eilt, wo brennende Balken umherliegen. Sein Ziel ist der Tresor in der Kapelle Notre-Dame des Sept Douleurs. Der Schlüssel passt. Doch dann fällt ihm der Code nicht mehr ein. Jedes Mal gibt es eine Fehlermeldung. All das unter maximalem Stress. Prades versucht telefonisch, zwei Personen zu erreichen, die den Code ebenfalls kennen. Aber die Verbindung kommt nicht zustande. Daraufhin schickt er eine SMS. Endlich die erlösende Nachricht mit der Zahlenkombination. Die Tresortüre öffnet sich und die mit rotem Leder bezogene Schatulle mit der Dornenkrone Christi und einem Stück des Kreuzes kann gesichert werden.
Der Bischof, die Vernunft und der Glöckner
Dieses Buch will ein Porträt der Kathedrale liefern, für die im Jahre 1163 der Grundstein gelegt wurde. Dabei steht für die Autorin nicht die kunsthistorische Betrachtung im Vordergrund. Sie zielt auf die große Linie ab, auf Personen und Ereignisse. Daraus ergibt sich eine populäre Geschichte der Kathedrale aus Anlass der Katastrophe – und das im Schnelldurchgang. Kapitel für Kapitel.
Poirier erzählt vom Bau-Anstoß durch Bischof Maurice de Sully im 12. Jahrhundert und vom Ehrgeiz des anonym gebliebenen ersten Baumeisters, der das höchste Bauwerk schaffen wollte, das je in einer Stadt errichtet worden ist. Sie verweist auf den Tag nach dem Sturm auf die Bastille im Jahre 1789, an dem in Notre-Dame ein Dankgottesdienst abgehalten wurde. Doch schon bald wurde dort nicht mehr zu Gott gebetet, sondern zur Göttin der Vernunft. Viel Raum wird Napoleon gewährt, dann Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“, der später auch in der Verfilmung mit Anthony Quinn und Gina Lollobrigida seine Wirkung entfaltete.
Weiter geht es mit dem Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann, der die Ile de la Cité „entrümpelte“. Auf diese Weise sogte er – wie schon bei der Anlage der Boulevards – für mehr Durchzug in der Stadt. Poirier verweist auf die Historiker-These, dass diese Eingriffe zu tun gehabt haben mit Haussmanns Asthmaanfällen, unter denen er wegen der schlechten Stadtluft besonders heftig gelitten habe.
Die christliche Prägung
Am Ende sind wir Leser bei der Debatte um den Wiederaufbau nach dem verheerenden Brand angekommen. Und bei der Frage, was die Kathedrale den Franzosen bedeutet. Die Antwort? Eine Menge. Agnès Poirier schreibt: „Die Tragödie hat offenbart, dass ein betont säkulares Land tief in der Geschichte wurzelt, einer Geschichte, die christlich geprägt ist.“ Womöglich ist Notre-Dame tatsächlich, wie es im Untertitel heißt, „die Seele Frankreichs“.
Martin Oehlen
Agnès Poirier: „Notre-Dame – Die Seele Frankreichs“, dt. von Monika Köpfer, Insel Verlag, 240 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.
