
Widerstände sind dazu da, überwunden zu werden – dies ist eine Lehre der Mary Ventura. Foto: Bücheratlas
Viel schmaler kann ein Buch kaum sein. Und dennoch ist es ein kleines Schmuckstück, attraktiv und wertvoll zugleich. Die Kurzgeschichte „Mary Ventura und das neunte Königreich“ ist ein bislang unveröffentlicht gebliebenes Werk von Sylvia Plath (1932 – 1962), der Autorin des Romans „Die Glasglocke“ und des nachgelassenen Lyrik-Bandes „Ariel“. Nachdem Plath 1952 einen Schreibwettbewerb der Zeitschrift „Mademoiselle“ gewonnen hatte, reichte die 20-Jährige dort im selben Jahr die Mary-Ventura-Geschichte ein – die allerdings abgelehnt wurde. Im folgenden Jahr versuchte die von Depressionen geplagte Amerikanerin zum ersten Mal, sich das Leben zu nehmen.
„Mary Ventura and the Ninth Kingdom“ ist 2019 im englischen Original erschienen und liegt nun in der Übersetzung von Eike Schönfeld auf Deutsch vor, in einer schönen Ausgabe der Insel-Bücherei. Es ist nach Einschätzung der Autorin eine „irgendwie symbolische Geschichte“. Sie handelt von Mary Ventura, die von ihren Eltern in einen Zug gesetzt wird: „Nun beeil dich aber, Schatz.“ Während der Fahrt erfährt die junge Frau, dass das Ziel, wo sie erwartet wird, ein „Königreich der Negation, des gefrorenen Willens“ sei. „Der Schmerz ist nicht so stark, wenn man gegen die Kälte abgehärtet ist.“ Sagt ihr eine freundlich-erfahrene Mitfahrerin. Das gibt Mary zu denken. Kurz vor der Endstation flieht sie aus dem Zug. Sie zieht die Notbremse – und geht ihrer eigenen Wege.
Die Bezeichnung „irgendwie symbolisch“ ist also leicht untertrieben. Denn in diesem eingängigen Frühwerk springt einem die Rebellion gegen eine vorgefertigte Lebensbahn mit Wucht entgegen. Eine Zugfahrt wie ein Hilferuf, gespickt mit vielen kleinen und großen Hinweisen auf diverse Lebensentwürfe, ein Plädoyer für Freiheit und Individualität.
Nur eine kurze Geschichte ist das, die aber einen langen Atem hat.
Martin Oehlen
Sylvia Plath: „Mary Ventura und das neunte Königreich“, dt. von Eike Schönfeld, Insel Verlag, 40 Seiten, 14 Euro. E-Book: 11,99 Euro.