
Cay Rademacher an seinem Wohnsitz in der Provence Foto: Bücheratlas
Fünf Freunde werden von einem namenlosen Fremden in ein Haus an der französischen Küste eingeladen. Die Betten sind frisch bezogen, der Kühlschrank ist gefüllt, das Haus geputzt. In den kommenden Tagen, so heißt es im Einladungsschreiben des geheimnisvollen Gastgebers, werden sie erfahren, wer vor genau 30 Jahren in einer Bucht unweit ihres Feriendomizils ihren gemeinsamen Freund Michael erschlagen hat.
Bei einem Einstieg wie diesem kommt Krimikennern spontan Agatha Christies Klassiker „Dann gabs keines mehr“ aus dem Jahr 1939 in den Sinn: Jemand lädt unter den Pseudonym U. N. Owen zehn Männer und Frauen auf eine kleine Insel vor der englischen Küste ein, wo ein Gast nach dem anderen gewaltsam zu Tode kommt. Die deutsche Krimiautorin Elisabeth Hermann schuf vor drei Jahren in „Die Mühle“ ein ähnliches Ausgangsszenario: Die einst coolste Clique der Schule erhält eine Einladung von einem Unbekannten und wird in eine abgelegene Mühle beordert, wo bald der erste der Freunde spurlos verschwindet.
Wer jetzt fürchtet, Cay Rademacher liefere mit „Ein letzter Sommer in Méjean“ lediglich eine weitere Variante des vielfach durchgenudelten Plots, der irrt gewaltig. Der erste Stand-Alone-Krimi des gebürtigen Flensburgers entpuppt sich schnell als ein komplexer und psychologisch hochambitionierter Spannungsroman, der völlig neue Wege einschlägt. Rademacher, seit einigen Jahren in einer umgebauten Mühle in der Nähe von Arles zu Hause, wurde vor allem durch seine Südfrankreich-Serie um den Ermittler Roger Blanc bekannt. Auch in seinem jüngsten Roman punktet er mit profunden Kenntnissen über seine Wahlheimat und mit Landschaftsbeschreibungen, die kleinen Liebeserklärungen gleichkommen. Ein zusätzliches Plus für alle Südfrankreich-Fans.
Claudia, Rüdiger, Barbara, Dorothea und Oliver rätseln, wer ihnen wohl die Einladung nach Méjean geschickt hat. Nach ihrem Abitur vor 30 Jahren haben sie in dem Fischerörtchen ein paar Tage Urlaub gemacht und sich anschließend aus den Augen verloren. Denn Michael, der Star der Clique, Jahrgangsbester und Schwarm aller Mädchen, wurde in jenem Sommer eines Morgens tot am Saum des Meeres gefunden. Sein Rucksack war verschwunden, der Mörder wurde nie gefasst. Durchaus möglich, dass der Täter oder die Täterin einer der ihren war. Die französische Polizei hat die alte Geschichte schon vor Jahren zu den Akten gelegt, doch dann erhält auch sie einen anonymen Brief. Der Mörder des jungen Deutschen halte sich derzeit in Méjean auf, heißt es darin. Man möge doch einen Ermittler schicken, um ihn festzunehmen.
Kommissar Marc-Antoine Renard, von einer gerade überstandenen Krebserkrankung gezeichnet, braucht nur wenige Tage, um die drei Jahrzehnte zurückliegende Tragödie aufzuklären. Bedächtig setzt er sich mit jedem der möglichen Täter auseinander, und allmählich fügt sich das Bild einer skrupellosen jungen Mannes, der sich damals mehr als nur einen Feind gemacht hat. Bis einer von ihnen in einer hellen Mondnacht zuschlug.
Rademacher arbeitet mit zahlreichen Rückblenden, ehe es zum großen Showdown am Strand kommt. Auch hier fühlt man sich ein wenig an alte Agatha-Christie-Krimis erinnert, in denen der Mörder am Ort des Geschehens öffentlich demaskiert wird. Der Krimi überzeugt durch seinen intelligenten Aufbau und seine psychologisch überzeugenden Charaktere, die seit 30 Jahren die Last einer unbewältigten Vergangenheit tragen.
Petra Pluwatsch
Cay Rademacher: „Ein letzter Sommer in Méjean“, DuMont, 464 Seiten, 22 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Einen Hausbesuch bei Cay Rademacher in der Provence – anlässlich des zuvor erschienenen Kriminalromans „Dunkles Arles“ – gibt es HIER.