
So sieht Überraschung aus: Damit Judith Schalansky einen Blick aufs Publikum werfen konnte, wurde das Licht im Kirchensaale angemacht. An ihrer Seite: Moderator Hubert Winkels. Foto: Bücheratlas
Einen „Naturführer der Monster“ hatte Judith Schalansky ursprünglich im Sinn gehabt. Bei der Recherche wurde ihr klar, so sagte sie es beim Auftritt auf der lit.Cologne in Köln, dass die Monster erfunden worden seien, um die Leere zu füllen: „Denn nichts ist schlimmer als das Nichts.“ Solche Lücken gebe es zudem, wenn ein Mensch sterbe. Bei Begräbnisfeiern gehe es darum, die Lücke nicht zu schließen, sondern erfahrbar zu machen. Ihr Schluss aus alledem: „Wenn die Dinge verschwinden, müssen wir anfangen zu erzählen.“
So hat Schalansky nicht den „Naturführer der Monster“ geschrieben, sondern ein „Verzeichnis einiger Verluste“, das in der Kulturkirche in Köln-Nippes im Gespräch mit Hubert Winkels vorstellte. „Am Leben zu sein bedeutet“, so heißt es im Vorwort, „Verluste zu erfahren.“ Davon handeln die zwölf Kapitel auf höchst unterschiedliche Weise. Drei stellte sie auszugsweise vor – die vom Kaspischen Tiger, die vom Schloss der von Behr und die vom Palast der Republik. (Eine ausführliche Besprechung des Bandes gibt es HIER.)
Judith Schalansky war neun Jahre alt, als die DDR unterging. Diese Erfahrung habe sicher eine Rolle gespielt, sich dem „Verzeichnis“ zu widmen, sagte sie. Was sie heute noch belustigt: Auf Fotos von den Demonstrationen in den Jahren 1989 und 1990 sind Kinder zu sehen mit Plakaten, auf denen zu lesen ist: „40 Jahre sind genug!“. Sie selbst, aufgewachsen in einer „indianerhaften“ Kindheit, habe sich nach dem Mauerfall gewundert, „dass die Cowboys in der BRD kein negatives Image hatten.“ Im Bewusstsein der Ostdeutschen sei der Untergang der DDR auch heute noch vorhanden, sagte sie, aber dabei gehe es nicht um die Bewertung des Vorgangs, sondern um die Tatsache. Das Positive für jeden Ostdeutschen: „Man weiß um die Möglichkeiten, man weiß, wie brüchig alles ist.“
Vierjährige springt aus dem Fenster
Wer sich erinnert, möchte man meinen, hat mehr vom Leben. Aber nicht selten trügt die Erinnerung. Das schildert Schalansky in einem autobiografischen Kapitel, das der ersten Erinnerung nachzuspüren versucht. Da geht es um das Schloss der von Behr in Busdorf bei Greifswald und vor allem um den Sprung der Vierjährigen aus einem Fenster. „Ich lege Wert darauf, dass es kein Sturz war, sondern ein Sprung – also etwas Aktives.“ Und das Fenster war, wie sie für das Buch nachgemessen hat, vier Meter hoch. Es geschah in einer Zeit „des großen Schweigens, des großen Alleinseins“. Im Text steht: „Ich wusste nicht, wessen Kind ich war.“
Sie habe sich einen Ruck geben müssen, diesen Text zu schreiben, sagte Schalansky. Und sie habe sich nicht vorstellen können, ihn einmal öffentlich vorzulesen. Aber es habe sich für sie einmal mehr gezeigt, „wie sehr die Literatur die Dinge verändert.“
Gegen Ende dieser Erzählung vom Fenstersprung stellt sich dann heraus, dass die erste Erinnerung wohl doch eine andere ist und einen Igel als Protagonisten hat. Auch weiß man nicht, ob das Behr’sche Schloss 1945 gesprengt wurde oder abgebrannt ist. Das Vergangene verschwimmt.
Die Kapitel sind jeweils 16 Seiten lang. „Ich liebe strenge Formen, weil sie mich disziplinieren“, erklärte die Autorin. Sie setze sich Zäune, um nicht mit den Gäulen durchzubrechen. Allerdings habe sie bei einigen Kapiteln „dranstricken“ müssen, bei anderen wegen der Beengung gelitten: „Scheiß-Konzept“ habe sie dann vor sich hingemurmelt.
„Sie sind aber leicht zu kriegen“
Der Text ist bei Schalansky allerdings nicht das einzige, was ein Buch ausmacht. Die Herausgeberin der „Naturkunden“ (Matthes & Seitz) und ausgewiesene Buchgestalterin hat viel Wert auf die Aufmachung gelegt. Dazu gehört auch die Bindung des Bandes: „Normalerweise müssen Sie tot sein, um bei Suhrkamp eine Fadenheftung zu bekommen.“ Da lachten die 380 Besucher im Kirchenraum und Schalansky wunderte sie sich: „Sie sind aber leicht zu kriegen.“ Dann fügte sie hinzu: Nicht nur bei Suhrkamp sei man mit der aufwendigen Fadenheftung so zurückhaltend, sondern bei allen Verlagen. Okay, die Kurve hat sie gekriegt.
Moderator Hubert Winkels lenkte das Räsonieren über das Erinnern dann noch einmal so kurz wie korrekt aufs das Gegenwärtige: Dass sich die Stadt Köln kaum um das Römergrab in Weiden kümmere, um diese Einmaligkeit aus der Antike, sei nicht zu begreifen. So ist es: Geschichte vergeht nicht, aber sie darf auch nicht vergessen werden – das gilt auch für das Kleinod an der Aachener Straße, das dank eines Fördervereins im Fokus bleibt. (Mehr dazu ist HIER zu lesen.)
Martin Oehlen