
Fotos: Bücheratlas
„Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren“ schreibt Judith Schalansky. Mag dieser Satz aus dem Vorwort noch wenig überraschend sein, so sind es dann doch viele Belege, die die Autorin in ihrem rundum verlockenden „Verzeichnis einiger Verluste“ vorstellt. Das gilt für die Geschichten, die sie erzählt, wie auch für die Gestaltung des Buches, die von der Liebe zum Werk kündet (und dass einmal ein Einzug am Absatz fehlt, ist ein „Fehler“, der die ansonsten vorherrschende Sorgfalt nur bestätigt).
Schwarz glänzende Seiten trennen die Kapitel voneinander. Auf der jeweiligen Rückseite schimmert, wenn man das Blatt nur recht ins Licht rückt, das Objekt der Beschreibung auf wie ein Glanz aus vergangener Zeit: die sieben Bücher des Mani, das Schloss derer von Behr, Guerickes Einhorn oder die Enzyklopädie in einem schweizerischen Kastanienhain.
Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, gibt zwölf Verlustmeldungen auf, in denen es um Herausragendes und auch um Randständiges geht. Jedes Thema erörtert sie aus einer jeweils spezifischen Erzählperspektive – empathisch, assoziativ, peripher und mal möglicherweise autobiographisch. Ihr Ton ist dabei zuweilen ein hoher, jedes Wort wohl gesetzt: „In dem Windschatten einer vermoorten Senke äst ein Sprung Rehe.“
Keineswegs steuert Schalansky allzeit schnurstracks auf den Verlustgegenstand zu. Beim Atoll Tuanaki zum Beispiel, das bei einem Seebeben um 1842/43 untergegangen sein muss, wendet sie sich vielmehr Captain James Cook zu, der dort ein paar Jahrzehnte zuvor gekreuzt ist. Und sie beschreibt den schwierigen Versuch, einer Kontaktaufnahme zwischen den Seefahrern aus dem Westen und den Insel-Bewohnern aus dem Süden.
Die Erinnerung an den Kaspischen Tiger animiert sie zur Beschreibung eines antiken Tiergemetzels im römischen Kolosseum: „Der Ruf, der Meere und Berge überwindet, eilte diesem Untier voraus: Es stamme aus den Tiefen der Wälder Hyrkaniens, des wilden, des schroffen, des immergrünen Landes am Ufer der Kaspischen See.“ Das Fell rot lodernd, die Schnauze weiß beschnurrt – „und auf seiner Stirn ein dunkles, sich spiegelndes Mal, dessen Bedeutung niemand kennt.“
Nahezu literaturwissenschaftlich nüchtern hingegen die Annäherung an die Liebeslieder der Sappho, entstanden um 600 vor Christus auf der Insel Lesbos. „Wo Sapphos Worte lesbar sind, sind sie so unmissverständlich und klar, wie Worte nur sein können.“ schreibt Schalansky. Ein Beispiel: „Eros schüttelt mich wieder, der Löser der Glieder,/ bittersüßes, unbezwingbares Reptil.“ Allerdings sind ihre Gedichte – in denen viele Frauen, aber keine Männer namentlich erwähnt werden – zumeist verstümmelt. Wenig wissen wir von Sappho, und wie beklagenswert das ist, macht Schalansky auf wenigen Seiten schmerzhaft deutlich.
„Wahrscheinlich muss es als Glück angesehen werden“, schreibt Schalansky, „dass die Menschheit nicht weiß, welche großartigen Ideen, welch ergreifende Kunstwerke und revolutionäre Errungenschaften ihr schon verloren gegangen sind.“ Das mag einerseits so sein. Aber andererseits ist es ein großes, zuweilen bewegendes Erlebnis, auf einige Verluste hingewiesen zu werden. Die ja nur unterschiedliche Repräsentanten eines gigantischen Archivs der „vergangenen Zukunft“ sind. Was Judith Schalansky in diesem vibrierend schönen Band in Erinnerung ruft, bleibt zwar verloren, aber nicht vergessen.
Martin Oehlen
Judith Schalansky: „Verzeichnis einiger Verluste“, Suhrkamp, 252 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.
Ich habe das wunderbare Äußere des Buchs von Schalansky auch schon bestaunt. Zum Lesen bin ich leider noch nicht gekommen, sodass jede Buchbesprechung meine Vorfreude und meine Neugier auf die Texte über Verlorenes ordentlich steigert. Vielen Dank dafür, Claudia
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