
Glaubensstark sind die Frauen im Roman von Miriam Toews. Aber auch in großer Not. Beten hilft nicht immer. Manchmal muss man einfach etwas tun. Foto: Bücheratlas
Miriam Toews kennt sich aus in der klaustrophobisch engen Welt, in der ihr jüngster Roman spielt. Schauplatz von „Die Aussprache“ ist ein mennonitisches Dorf irgendwo in der Einsamkeit Boliviens. Die kanadische Bestsellerautorin, die heute in Toronto lebt, wuchs selbst in einer mennonitischen Gemeinschaft auf. Ihr Elternhaus stand zwar nicht in Südamerika, sondern in Steinbach, einem kleinen Dorf im kanadischen Manitoba. Doch sie kennt die Machtstrukturen in Dörfern wie diesen, und sie weiß um die Enge des Denkens, der sie mit 18 Jahren in die Großstadt entfloh. Bereits in ihrem 2004 erschienenen Roman „A complicated kindness“ (dt. „Ein komplizierter Akt der Liebe“, 2005) schildert sie, was es für eine junge Frau bedeutet, unter bibelfesten Russlandmennoniten aufzuwachsen. Sieben Jahre später greift sie das Thema noch einmal auf in ihrem Roman „Irma Voth“ (dt. „Kleiner Vogel, klopfendes Herz“).
„Die Aussprache“ ist Miriam Toews achtes Buch, und es ist sicher ihr inhaltlich wie auch stilistisch anspruchsvollstes Werk. Zwei Tage lang sitzen acht mennonitische Frauen auf einem Heuboden in Molotschna zusammen und beraten darüber, über sie ihr Heimatdorf verlassen oder bleiben sollen. Sie alle sind über Jahre im Schlaf überfallen, mit einem Tierbetäubungsmittel bewusstlos gemacht und vergewaltigt worden. Einige ihrer Leidensgenossinnen haben Selbstmord begangen, andere sind schwanger geworden.

Foto: Bücheratlas
Die Täter, allesamt Freunde, Nachbarn und Verwandte der Opfer, sind inzwischen verhaftet worden und warten in der nächstliegenden Stadt auf ihre Gerichtsverhandlung. Doch am Tag zuvor sind die Männer des Dorfes aufgebrochen, um sie gegen die Zahlung einer Kaution freizubekommen. Den geschändeten Frauen – Analphabetinnen, die nie aus dem Dorf herausgekommen sind – bleiben 48 Stunden Zeit, um über ihre Zukunft zu entscheiden. Bleiben sie, müssen sie wie vom Bischof gefordert den Tätern verzeihen und sind weiterhin der Willkür der Männer ausgeliefert. Gehen sie, werden sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen und können nicht ins Himmelreich eingehen.
„Sind wir Tiere?“, fragen sich die Frauen zu Beginn der Diskussion. Tiere, die geduldig auf die Rückkehr ihrer Peiniger warten? Oder sind wir Menschen mit einer Seele und einem eigenen Willen? Ihr quälender Selbstfindungsprozess ist ein psychologisches Meisterstück, an dessen Ende ein aus drei Punkten bestehendes Manifest steht: „Wir wollen, dass unsere Kinder in Sicherheit sind. Wir wollen an unserem Glauben festhalten. Wir wollen eigenständig denken.“ Eindringlich schildert Miriam Toews Machtstrukturen, die aus dem Alten Testament zu stammen scheinen, und Frauen, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung ihre eigene Stärke entdecken.
Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Zwischen 2005 und 2009 wurden in einer abgelegenen Mennonitenkolonie in Bolivien mehr als 130 Frauen im Schlaf vergewaltigt. Zunächst schrieb man die Vorfälle Geistern und Dämonen zu. Erst 2011 wurden die Täter zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. So erschreckend das Ganze sei – überrascht hätten sie die Verbrechen nicht, sagt Miriam Toews in einem Interview mit der britischen Tageszeitung „The Guardian“. Extremistische und isolierte Gemeinschaften wie diese seien von je her anfällig gewesen für derartige Gewalttaten. „Ich musste einfach über diese Frauen schreiben, denn ich hätte eine von ihnen sein können.“
Petra Pluwatsch
Lesungen mit Miriam Toews
in der Buchhandlung zur Heide in Osnabrück am 22. März 2019,
im Brunosaal in Köln-Klettenberg im Rahmen der lit.Cologne am 23. März,
in der Kulturbrauerei in Berlin am 25. März,
im Ökumenischen Forum Hafen City in Hamburg am 26. März,
in der Leibniz Universität Hannover am 27. März.
Miriam Toews: „Die Aussprache“, dt. von Monika Baark, Hoffmann und Campe, 256 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.