
Die Andenregion rund um Bariloche in Argentinien zog nach dem Zweiten Weltkrieg auch den einstigen KZ-Arzt Josef Mengele an. Hier machte er, wenn man so will, Ferien. Fotos: Bücheratlas.
Den Anfang macht ein Zitat des polnischen Dichters Czeslaw Milosz: „Ihr, die ihr Leid über den einfachen Mann brachtet,/ ihr, die ihr über sein Leid lachtet, fühlt euch nicht sicher./ Der Dichter erinnert sich.“ Einer, der Leid über viele Menschen gebracht hat, war Josef Mengele; und einer, der nun an den Nazi-Arzt erinnert, ist der Franzose Olivier Guez, 1974 in Straßburg geboren. Sein Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ wurde in Frankreich mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet – und er hat jetzt, da er in Deutschland erscheint, auch bei uns alle Aufmerksamkeit verdient.
Es ist nach Eric Vuillards „Tagesordnung“, im März erschienen, der nächste Blick auf den Nazi-Sumpf. Guez, der als Journalist und Autor in Paris lebt, erzählt vom zweiten Leben des Josef Mengele. Seine mörderischen Menschen-Experimente liegen hinter ihm. Von Reue keine Spur. Wohl aber von der Sorge, wie er seine Spur verwischen könnte. Denn jetzt, da der Krieg zu Ende ist, gilt für den Mann aus Günzburg, seine eigene Haut zu retten. Materiell bestens versorgt, gelingt ihm die Flucht nach Argentinien, wo er 1949 als Helmut Gregor einreist, mit ein paar Opernplatten im Gepäck und einem Aktenkoffer voller Injektionsspritzen, Blutproben und Zellplättchen.
Als er den Stadtplan von Buenos Aires auseinanderfaltet, fühlt er sich an eine „andere Planstadt“ erinnert – „wo er seine besten Jahre als Ingenieur der Rasse verbracht hatte, eine verbotene Stadt in dem beißenden Geruch von verbranntem Haar und Fleisch, ringsherum Wachtürme und Stacheldraht.“ Wo er als „Kannibalen-Dandy“ wütete und wo es verboten war, „seinen Blick zu suchen oder das Wort an ihn zu richten.“ Sogar seine Kameraden hatten Angst vor dem Leitenden Lagerarzt von Auschwitz. Dort hielt er Ausschau nach „verwendungsfähigem Menschenmaterial“ für sein Labor. Darum ging es: „Injizieren, vermessen, Blut abnehmen; zerstückeln, töten, obduzieren.“ Der Autor kontrastiert das Intime und das Barbarische: „Die SS-Männer verbrannten Männer, Frauen und Kinder bei lebendigem Leib in einer Grube; Irene und Josef sammelten Blaubeeren, aus denen sie Marmelade kochte.“
Es ist ein Roman, der auf historischen Fakten basiert. Die Verbindungsstücke freilich, die Gespräche und Empfindungen, sind der Imagination abgerungen. Guez gelingt eine Geschichtslektion, die so spannend wie bestürzend ist. Dabei gleicht sie zuweilen eher einem Feature denn einer Fiktion.
Was leider unberücksichtigt bleibt: Wie wurde aus Josef Mengele der „Todesengel“? Im Zentrum steht vielmehr die Frage, wie sich Mengele der Verurteilung entziehen konnte. Weiter macht Guez vertraut mit den autoritären Strukturen des peronistischen Argentinien und mit dem Netzwerk der Altnazis in Südamerika. Schließlich erinnert er daran, mit welcher Intensität die Verbrechen der Nazi-Zeit im Wiederaufbau-Deutschland beschwiegen wurden. Einmal schreibt der Vater aus Günzburg an den Sohn in Buenos Aires, dass sich die Alliierten „immer vernünftiger“ zeigten: Sie „lassen ehemalige Nazis wichtige Posten in der Regierung und Industrie der neuen Bundesrepublik besetzen.“
Mengele führt, nachdem er sich in Argentinien etabliert hat, zunächst ein angenehmes Leben. Die väterliche Finanzquelle sprudelt weiter, auch baut er eine Möbelfabrik auf und vertreibt Mengele-Landmaschinen aus der Heimat. Er gilt als gebildet, weil er Goethe und Fichte zitieren kann, und ist galant zu den Damen. Doch nicht Genugtuung darüber, von der gerechten Strafe verschont zu bleiben, prägt seine Seelenlage, sondern Hochmut. Der Unbelehrbare prahlt, einst als „biologischer Soldat“ aktiv gewesen zu sein. Bald schon tritt er mit seinem Klarnamen auf. Er fühlt sich sicher.
Doch Adolf Eichmanns Verhaftung im Jahre 1960 verändert einiges. Die nach Südamerika geflohenen Kriegsverbrecher fragen sich: „Wer wird der Nächste auf der Liste sein?“ Den Haftbefehl für Eichmann hatte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erlassen. Guez war am Drehbuch zum Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ beteiligt und ist dafür 2016 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet worden. Sicher eine Inspirationsquelle, sich anschließend dem Fall des Josef Mengele zu widmen.

Obskures Angebot in einer ganz und gar gewöhnlichen Buchhandlung im argentinischen San Martin de los Andes, nicht weit entfernt von Bariloche: In bester Lage wird dort 2018 ein Titel ausgelegt, der mit historischen Orten der Region vertraut zu machen vorgibt, die einst mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gestanden haben sollen. Ausgewiesen als „Guia turistica“, als touristischer Führer. Gleich neben solchem Irrsinn ein patagonisches Abenteuer aus einem ferneren Jahrhundert – als wäre alles eins.
Mit der Verhaftung Eichmanns setzt der zweite Teil des Romans ein. Nach den Zeiten der Etablierung sind es nun die Zeiten der Flucht, des Versteckens, der Angst, des Verlust seiner akademischen Titel. Vom nervösen Schnurrbartkauen hat er einen haarigen Pfropfen im Darm, der entfernt werden muss. Nicht zuletzt der israelische Geheimdienst ist hinter ihm her.
Am Ende entkommt Mengele, ein Antisemit bis zum Ende, der gerechten Strafe. Aber seines Lebens, immerhin, wird er nicht mehr froh. Er stirbt 1979 in Brasilien an einem Herzinfarkt.
Martin Oehlen
Olivier Guez: „Das Verschwinden des Josef Mengele“, deutsch von Nicola Denis, Aufbau, 224 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.
Lesungen mit Olivier Guez
im Kölner Institut français, Sachsenring 77, am Montag, 10. September, um 19.30 Uhr. Eintritt: 10 Euro / 8 Euro. Kooperationspartner ist die Buchhandlung Klaus Bittner;
im Düsseldorfer Müller & Böhm Literaturhaus im Heine Haus, Bolkerstraße 53, am 11. September um 19.30 Uhr;
im Bonner Institut français, Adenauerallee 35, am 12. September um 19.30 Uhr;