
Rachel Cusk Foto: Suhrkamp Verlag
Die Menschen, die mit Faye zusammentreffen, werden von einem ganz eigentümlichen Zwang befallen: Sie neigen dazu, der Gesprächspartnerin Alles und Jedes zu erzählen. So war es schon der Fall in „Outline“ (2014) und in „Transit“ (2016) und ist es jetzt wieder in „Kudos“, jenem Roman, mit dem Rachel Cusk ihrer Trilogie „einer weiblichen Odyssee im 21. Jahrhundert“ (Suhrkamp Verlag) abschließt. Fayes Sensorium entgeht, so scheint es, kaum eine Nuance dessen, was ihre Bekannten und Unbekannten besorgt. Sie stellt blitzgescheite Fragen, schweigt an den richtigen Stellen, animiert durch ihre pure Existenz zu allen möglichen Bekenntnissen. Vor allem kommen Frauen zu Wort, die um ihre Identität ringen. Dann auch Männer, Kinder, Familien, alle im Krisenmodus. Es ist eine betörend klarsichtige Seelenschau, die hier geboten wird, eine sarkastische Typenparade zudem.
Zwei Literaturfestivals sind die Bühne für diesen Roman – das eine ereignet sich in Köln und das andere in Lissabon. Da wie dort und zwischendrin wird der Literaturbetrieb mit reichlich Sarkasmus präsentiert. Von ihrem Verleger erfährt Faye, dass er vor allem mit Sudoku-Ausgaben Kasse mache. Da fühlt sich eine Literatin sogleich am rechten Platz! Überhaupt sollte man seiner Ansicht nach die Wertschätzung des Lesens nicht überschätzen. Das führt er aus: „Die meisten Menschen hielten den Akt des Lesens für ein Zeichen von Intelligenz, möglicherweise weil sie in ihren prägenden Jahren nicht in der Lage gewesen waren, die schulische Pflichtlektüre zu mögen oder zu verstehen.“ Er bemüht die Psychoanalyse, der zufolge sich der Mensch unbewusst nach der Wiederholung traumatischer Erfahrungen zurücksehne. Weitere literarische Schrullen und Spitzen gibt es zuhauf.

Die Romanheldin Faye ist eine Schriftstellerin, die auf einem Kölner Literaturfestival auftritt, das mehr als eine Parallele zur lit.Cologne aufweist. Rachel Cusk selbst war mit ihrem Roman „Outline“ Gast des Festivals gewesen. Hier ist ein untypisches Motiv von der lit.Cologne zu sehen, Sekunden nach dem Einlass zu einer Veranstaltung aufgenommen – ein paar Minuten später sind alle Plätze besetzt. Foto: Bücheratlas
Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, lebt in England. Viel Aufmerksamkeit erregte sie mit „A Life’s Work: On Becoming a Mother“ (2001), worin sie ihre Erfahrungen als Mutter schilderte. Cusk selbst bezeichnet sich als eine feministische Autorin, wenngleich der Begriff ausgebeult sei wie eine alte Jeans. Auch ihre Romanheldin Faye wird mit dem Thema konfrontiert. Eine Journalistin meint, sie habe immer wieder Feministinnen interviewt, doch sie selbst sei viel zu verzagt gewesen, um ihr Leben nach feministischen Idealen zu gestalten: „Ich habe in den Schwierigkeiten geschwelgt, mit denen diese Frauen zu kämpfen hatten, und gleichzeitig habe ich die Mitfühlende gespielt.“
Dass Rachel Cusk eine meisterhafte Beobachterin der Geschlechterverhältnisse ist, wird in „Kudos“ – eine altgriechische Bezeichnung für Ruhm und Auszeichnung – großartig bestätigt. Eine Geschichte mit Aufs und Abs wird die Leserin oder der Leser am Ende des Romans nicht in Händen halten. Die Zentralkraft dieser Prosa liegt in den pointierten Protokollen der Zerrissenheit. Menschen sind dabei zu beobachten, wie sie erzählend zu ihrer Geschichte zu finden versuchen. Dabei werden sie zuweilen weit und weiter hinausgetrieben auf ein autobiografisches Territorium, das sie bisher noch nicht betreten hatten. Manchen geht plötzlich ein Licht auf. So wie dem Fluggast auf dem Sitz neben Faye: „Er hielt inne, und ein Ausdruck des Erstaunens trat in seine Züge.“ Ein Staunen, das der Leser nicht selten teilt. Was kann man mehr von einer Lektüre erwarten?
Martin Oehlen
Rachel Cusk: „Kudos“, dt. von Eva Bonné, Suhrkamp, 216 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
Und das sind die ersten beiden Bände: