
Zwölf Eingänge hat das „Haus ohne Eigenschaften“ in Köln-Müngersdorf. Jeweils vier an der Vorder- und der Rückfront und je zwei an den Seiten. Doch den vielen Möglichkeiten zum Trotz, steht das Gebäude, in dem die Biblioteca Speck untergebracht ist, nur selten offen. Eine Gelegenheit zum Besuch bietet sich allerdings immer dann, wenn eine literarische Veranstaltung geboten wird. Soeben war dies wieder der Fall: Zum einen ging es um das Jubiläum von William Shakespeares Gesamtausgabe „First Folio“, die vor 400 Jahren erschienen ist, und zum anderen um das Werk von Anthony Powell, der von seinem Landsmann „Will“ ebenso beeinflusst worden ist wie von Marcel Proust.
„Casa senza qualità“
Also – schauen wir mal hinein! Oswald Mathias Ungers (1926-2007) hat den weißen Kubus im Jahre 1996 als sein Wohnhaus errichtet. Der Architekt, den antiken Vorbildern verbunden, zielte beim Entwurf auf Klarheit, Reduktion und Geometrie. Er entwarf eine Hülle auf einem Sockel, zurückhaltend und erhaben zugleich. Über seine „Casa senza qualità“ sagte er: „Es ist nichts dahinter, alles, was gemeint ist, wird sichtbar, wird unvermittelt gezeigt.“
Die Stadt Köln spricht auf Hinweistafeln, die zu den Attraktionen in Müngersdorf führen, vom „Haus ohne Eigenschaften“. Reiner Speck allerdings, der das Gebäude vor zehn Jahren als Domizil für seine Proust- und Petrarca-Sammlung erworben hat, mag den abwertenden Zungenschlag nicht. Er pflegt und propagiert eine andere Lesart: Es sei ein „Haus ohnegleichen“. Und das trifft die Sache genau. Auch wegen der Schätze, die dort gesichert sind. Keine Privatsammlung weit und breit bietet annähernd so viele Kostbarkeiten zu Francesco Petrarca (1304-1374) und Marcel Proust (1871-1922).
„Tre corone“
Im Erdgeschoss befindet sich die Bibliothek, die sich dem großen Renaissance-Künstler widmet. Petrarca gehörte mit Dante und Boccaccio zu den „tre corone“ des 14. Jahrhunderts, den drei Kronen aus Florenz. Doch es besteht kein Zweifel, wen Reiner Speck in diesem Dreigestirn für den hellsten Stern hält.
Zur Sammlung gehört sehr vieles, was sich in Antiquariaten und auf Auktionen zu Francesco Petrarca zusammentragen ließ. Darunter 20 Handschriften sowie einige frühe Drucke im Bestzustand, wie sie es, sagt der Hausherr, selbst in der Bibliothèque Nationale oder der British Library nicht gebe („da fehlen dann zwei Seiten“). Porträts in Öl und Terrakotta kommen hinzu.
Der dritte Fragebogen
Im Obergeschoss des Weißen Hauses zu Müngersdorf offenbaren Schränke und Schubladen, was Marcel Proust privat geschrieben und öffentlich in Umlauf gebracht hat. Insgesamt sind es rund 150 Originalbriefe, darunter die einzige Postkarte, die er auf Deutsch geschrieben hat. Auf einen dritten Fragebogen, den Marcel Proust persönlich ausgefüllt hat, weist Reiner Speck mit Nachdruck hin, denn in der Regel ist nur von zwei Fragebögen die Rede. Auch die Arbeit am Werk selbst – mit Schnipseln, Kleber und handschriftlichen Ergänzungen – ist gleichsam nacherlebbar.
Doch es muss nicht immer der Meister selbst sein, dem nachgespürt wird. Dem Urologen Reiner Speck war es ein gleichsam kollegiales Anliegen, die Dissertation von Marcel Prousts Bruder Robert zu erwerben. Darin befasste sich der Mediziner mit der „Prostatectomie périnéale totale“, einem Zugang zur Prostata, der in Fachkreisen als „Proustatectomie“ bekannt ist.


Die Haarsträhne richten
Die literarischen Sonderstellungen des Italieners und des Franzosen bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Francesco Petrarca ist mit seinen „Canzoniere“ in die Literaturgeschichte eingegangen, und Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ ist eine Ikone der Romanwelt. Doch wie steht es um die Lebensläufe? Gibt es Verhaltensweisen, die die beiden verbindet?
Reiner Speck sieht drei Parallelen. So habe sich Petrarca, als er in Avignon lebte, wie ein Dandy verhalten. Seinem Bruder schrieb er, dass er viel Zeit aufs Ankleiden verwende, und er beklagte sich, dass er, kaum sei er auf die Straße getreten, schon eine Haarsträhne habe richten müssen. Das könne, wem Marcel Prousts Vita vertraut sei, bekannt vorkommen – denn auch er habe sich „dauernd umgezogen“.
„Arbeit am Mythos“
Zudem hätten beide eine „ungeheuer umfangreiche Korrespondenz“ geführt, die voller Selbststilisierung gewesen sei, zudem gespickt mit Unwahrheiten und mit Zitaten verehrter Autoren. Petrarca verwies auf die Größen der Antike, Proust auf Baudelaire. Schließlich eint die Autoren der Entschluss, sich nach der „Vita activa“ der „Vita contemplativa“ hinzugeben – also alles etwas ruhiger angehen zu lassen. Im fortgeschrittenen Alter widmeten sie sich demnach „der Korrektur des Werks“ und „der Arbeit am Mythos“. Der eine in der Provence, der andere in Paris.
Auch das Bildprogramm der Bibliothek hat es in sich. Reiner Speck ist ja nicht nur ein Büchersammler, sondern auch ein Kunstsammler. Das sieht man. In einer Leuchtschrift zitiert der britische Künstler Cerith Wyn den amerikanischen Autor William S. Burroughs: „The sky is thin as paper here“. Und wandhoch prangt eine Fotoarbeit von Andreas Gursky, in der Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ paraphrasiert wird (was an diesem Ort „senza qualità“ eine feine ironische Note hat). Und dies sind nur zwei Beispiele.


„Was hieraus wird“
Ein Schatzhaus. Wir sagten es schon. Nicht nur in Köln ohnegleichen. Aber: „Man weiß ja nicht, was hieraus wird.“ Das hatte Reiner Speck zur Begrüßung gesagt. Und nun, nach dem Rundgang auf zwei Etagen, fragen wir mal indiskret nach. Ob die Biblioteca Speck auf ewig am grünen Stadtrand bleiben oder ob sie sich eines Tages im Zentrum der Öffentlichkeit öffnen wird?
Der Sammler bittet freundlich lächelnd darum, seine Verschwiegenheit zu entschuldigen. Nichts ist gewiss. Aber eine Idee hat er schon. Ob die Stadt sie schon kennt?
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich allerlei Beiträge, die in Verbindung mit diesem Artikel stehen.
Zu Petrarca:
ein Besuch im kleinen Petrarca-Museum in Fontaine-de-Vaucluse, nahe der Sorgue-Quelle (HIER);
eine Besprechung des Prachtbands „Klug und von hehrer Gestalt – Petrarca-Bildnisse aus sieben Jahrhunderten“, den Reiner Speck und Florian Neumann im Snoek Verlag herausgegeben haben (HIER).
Zu Proust:
ein Rundgang auf der Marcel-Proust-Promenade in Köln (HIER).
Zu Shakespeares „First Folio“:
eine Besprechung der Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum (HIER).
„Mr. William Shakespeares Comedies, Histories & Tragedies“,
als „First Folio“ vor 400 Jahren erschienen, bietet 36 Dramen auf gutem Papier und in Leder gebunden. Von den weltweit überlieferten 234 Exemplaren der „F1“ zählen nur 14 zur „Class A“. Ein solches Exemplar im besten Erhaltungszustand besitzt die Kölner Universitäts- und Stadtbibliothek (USB). Es handelt sich um „eines der teuersten Bücher der Welt“, wie Christiane Hoffrath (Dezernentin für Historische Bestände und Sammlungen der USB) in ihrem Vortrag im Garten der Biblioteca Speck sagte. Auf diesem Blog haben wir über das Prachtstück schon berichtet, als es im Frühling im Zentrum einer Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum stand – und zwar HIER.
Die Universitäts- und Stadtbibliothek hat ihre „First Folio“- Ausgabe digitalisiert. Die Plattform „First Folios Compares“ ermöglicht einen Vergleich verschiedener „First Folio“-Exemplare in der Splitscreen-Ansicht.
Die Anthony Powell Gesellschaft
wurde 2010 in Köln gegründet. Sie ist bestrebt, das Werk des britischen Autors im deutschsprachigen Raum zu fördern. Anthony Powell wurde 1905 geboren und ist im Jahr 2000 gestorben. Sein Hauptwerk ist der Romanzyklus „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ („A dance to the music of time“), der zuweilen mit Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verglichen wird.
Bei der Veranstaltung in der Biblioteca Speck sprach Theo Langheid, der Vorsitzende der Anthony-Powell-Gesellschaft, über den Einfluss, den William Shakespeare und Marcel Proust auf Powells Werk gehabt haben. Die Rede ist abgedruckt auf der Homepage der Gesellschaft: Shakespeare, Proust & Powell (anthonypowell.de) .