Gedenkfeier für Martin Walser im Stuttgarter Schloss mit Iris Radisch und Arnold Stadler: „Er hat den Schmerz in Schönheit verwandelt, das Unglück in Sprachglück“

Der Weiße Saal im Neuen Schloss in Stuttgart Foto: Bücheratlas

Eine Wortmeldung aus dem Jenseits, so scheint es, mäandert durch den Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart: „Der Tod trägt einen Morgenmantel / mit meinen Initialen.“ Es ist Martin Walser, der da spricht, im März 2022 aufgenommen im Kreis der Familie in Nußdorf bei Überlingen am Bodensee, Passagen aus den Alterswerken „Spätdienst“ (2018) und „Sprachlaub“ (2021) nun öffentlich gemacht auf der Gedenkfeier anlässlich seines Todes am 26. Juli 2023, da war er 96 Jahre alt.

Die Stimme klingt leicht ausgebleicht, aber ihr Duktus ist zweifelfrei erkennbar, in Färbung und Melodie. Es ist die Stimme eines Autors, der ins Dasein verliebt war. Immer noch. Wie denn nicht? Was sind denn schon neun Lebensjahrzehnte! Während aus dem benachbarten Landesmuseum die Bässe einer Techno-Party wummern, tönt es im Schloss: „Herz, schlag‘ schneller / Das Leben will’s.“

Anfänge bei Radio Stuttgart

Stuttgart also. Die Stadt des Never-ending-Bahnhofsbaus liegt nicht am Bodensee. Dennoch ist es kein schlechter Ort für eine solche Würdigung.

Zunächst einmal ist es die Hauptstadt jenes Bundeslandes, in dem der Schriftsteller gemeldet war. Weiter hat er hier seine Karriere begonnen. Als Reporter, Redakteur und Autor bei Radio Stuttgart beziehungsweise beim Süddeutschen Rundfunk; Anfang der 1950er Jahre lebte er in der Reitzensteinstraße. Auch ist sein erster Roman, die „Ehen in Philippsburg“ (1957), von der lokalen Atmosphäre geprägt. Und dann – aber das ist nun nicht mehr so zentral – fand im Stuttgarter Literaturhaus im vergangenen Jahr seine letzte öffentliche Lesung statt (über die wir auf diesem Blog HIER berichtet haben).

„Cimbrische Weisen“

Die Familie hatte rund 250 Gäste geladen. Käthe Walser, die 1950 Martin Walser geheiratet hat, konnte nicht nach Stuttgart reisen. Wohl aber taten dies die vier Töchter Franziska, Johanna, Alissa und Theresia, zudem Jakob Augstein, der aus einer anderen Beziehung von Martin Walser stammt.

Gerahmt wurde die Gedenkfeier von den Cellisten Julius und Hyun-Jung Berger. Sie boten mit Johann Sebastian Bach und zwei „Cimbrischen Weisen“ das Programm, das sie auch bei einem Privatkonzert bei den Walsers in Nußdorf im Januar 2023 gespielt hatten. Der ehemalige Bundesminister Theo Waigel, der nun in der ersten Reihe saß, war damals dabei, und ebenso Arnold Stadler, der im Verlauf der Gedenkfeier sagen wird, dass er Martin Walser bei dieser Musik habe weinen sehen.

Das Neue Schloss in Stuttgart Foto: Bücheratlas

„Klugheit, Zugewandtheit, Streitbarkeit“

Die Begrüßungsworte kamen von den Organisatorinnen. Petra Olschowski (Bündnis 90/Die Grünen), Landesministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, pries den Autor als einen Chronisten unserer Zeit und als „einen der bedeutendsten und prägendsten Schriftsteller der letzten 70 Jahre“. Auch erinnerte sie daran, dass er 2022 seinen Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben hat.

Nicola Bartels, seit drei Jahren Rowohlt-Verlegerin, stellte ihrerseits fest: „Er fehlt – dem Verlag, der Literatur, der Gesellschaft und mir persönlich.“ Martin Walsers Werke werden bleiben, sagte sie, aber es fehle nun seine Klugheit, Zugewandtheit und Streitbarkeit. Auch dankte sie ihrem Vor-Vor-Vorgänger Alexander Fest, der einst den Autor zu Rowohlt geholt hatte, nachdem der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gestorben war.

„Die seelischen Innenräume der Bundesrepublik“

Sodann ging es ans Eingemachte. Mit Iris Radisch und mit Arnold Stadler. Die Literaturkritikerin legte mit einem Bekenntnis los: „Noch nie hat mich die Nachricht vom Tod eines Schriftstellers so traurig gemacht wie bei Martin Walser.“ Fortan ging sie der Frage nach, wie das zu erklären sei. Die Antwort findet sich, na klar, in der Literatur: „Niemand hat so einfühlsam wie er die seelischen Innenräume der Bundesrepublik durchquert.“ Solange es Bücher gebe, sagte Iris Radisch, werde man bei Walser nachlesen können, „wie wir weitergelebt haben“ nach dem Epochenbruch. Nun sei niemand mehr da, der diese „Unheilbarkeit“ darzustellen vermöge.

Auch befasste sie sich mit Martin Walsers Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1998), längs schon ein Elementarteilchen seiner Biographie. „Meinungsstark“ habe der Autor damals die Gedenkkultur angegriffen, sagte die Rednerin. Dabei sei es ihm darum gegangen, dass niemandem eine Gewissenserfahrung verordnet werden könne. Wer möge, der nenne diese Haltung weltfremd. Aber – „auf gar keinen Fall“ sei dies ein Plädoyer gewesen für das Wegsehen oder den Schlussstrich. Martin Walser habe sich nie der deutschen Schuld und der Erinnerung an den Holocaust entziehen wollen.

„Wehmütiges Unwiederbringlichkeitsgefühl“

In Walsers Antihelden, den Kristleins, Zürns, Horns und all den anderen, halle die deutsche Kriegskatastrophe nach. Auch in diesem Zusammenhang empfinde sie ein „wehmütiges Unwiederbringlichkeitsgefühl“. Wer habe heute noch die Größe, fragte Iris Radisch, auf die Kleinheit seiner Helden zu bestehen.

Iris Radischs Rede war auch eine lebhafte Feier der Walser‘schen Sprache. Der geschriebenen und der gesprochenen. In seiner Stimme habe man den Wellenschlag des Bodensees gehört, stellte sie fest. Und dann noch ihr Lieblingssatz aus dem Walser-Kosmos, nachzulesen in „Mein Jenseits“ (2010): „Ich ging immer an einer Wand entlang, die würde aufhören, dann begänne das Leben. Die volle Berührung. Das war ein Irrtum. Diese Wand war das Leben.“ Und diese Wand habe er auf Herrlichste beschrieben.

„Abrr kummschd widrr, gell!“

So schön und rund die Rede der Kritikerin war, so liebevoll, beschwörend und geradezu dringlich klang es bei Arnold Stadler. Sein Nachruf, gespeist aus der persönlichen Begegnung, kam zuweilen einer Anrufung nahe. „Du, Martin“ – so wandte sich Arnold Stadler einige Male an den Verstorbenen. „Du, Martin, liebtest das Hinausschwimmen. Den Himmel und das Wasser, diese Allmenden unserer Augen.“ Der Bodensee sei für ihn Welt und Weltraum gewesen. Das habe ihn nicht zu einem „Bodenseeschriftsteller“ gemacht: „Provinz gibt es nicht. Es gibt nur Welt. Da schwamm er so gerne hinaus. Bis zuletzt, als es nur noch mit den Augen ging.“

Arnold Stadler, der Freund, der schon bei der Beerdigung auf dem Kirchhof in Wasserburg aus zwei Psalmen gelesen hatte, war ein gern gesehener Gast im „Walserhaus“. Es waren nicht selten sehr lange Besuche, sagte jetzt Arnold Stadler, doch seien diese für den Hausherrn oft zu kurz gewesen. Dann habe er in der Mundart, in der man miteinander kommunizierte, gesagt: „No hau doch ab!“ Und dann hinzugefügt: „Abrr kummschd widrr, gell!“

Arnold Stadler bei seiner Rede Foto: Bücheratlas

„Schreiben und Singen“

Der Schmerz sei bei Martin Walser Antrieb seines Lebens und Schreibens, gewesen. Kein Schmerz wie beim Zahnarzt, sondern als „Grund-Riss“. Dass Gott fehle, sei ein Hauptschmerz Walsers gewesen: „Er sagt ja nicht: Gott ist tot. Sondern: Gott fehlt!

Diesen Schmerz habe er Satz für Satz hinausgesungen: „Er hat es immer schon singen müssen. Man muss es aber singen können. Schreiben und Singen sind eins in diesem grandiosen Werk mit dem Schmerz als Cantus Firmus.“ Auf diese Weise habe er „den Schmerz in Schönheit verwandelt, das Unglück in Sprachglück.“

„Der Erste unserer Sprachmenschen“

Selbst wenn sich der Autor am Telefon meldete, habe dies zuweilen geklungen wie ein Schmerzenslaut, ein Seufzen. „Fast geflüstert und wie aus einer anderen Welt. Wie eine Melange aus Schmerzensmann, Eremit und Hoffnung auf Rettung und dann auch wieder schüchternem Übermut. Er sprach, als wäre es von Angesicht zu Angesicht.“

Martin Walser sei ein mutiger Mann gewesen, sagte Arnold Stadler und zitierte damit auch einen Satz der ältesten Tochter Franziska. Ein liebender und ein sterbender Mann, womit auf zwei Walser-Titel angespielt wurde. Auch sei er ein zu Zeiten „die sogenannte Öffentlichkeit“ verstörender Mann gewesen. „Der Erste unserer Sprachmenschen“, und „der Letzte von den Großen einer ganzen Epoche.“ Eines seiner Lieblingsworte sei „atemraubend“ gewesen, aber – bitte! – niemals „atemberaubend“. Und auch das sei Martin Walser gewesen – atemraubend.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir eine persönliche Erinnerung an Begegnungen mit Martin HIER platziert. Außerdem findet sich HIER ein Bericht über Martin Walsers letzte öffentliche Lesung im vergangenen Jahr in Stuttgart.

Arnold Stadlers jüngsten Roman „Irgendwo. Aber am Meer“ (S. Fischer) haben wir HIER besprochen.

Das Literaturhaus Stuttgart

lädt zu einem Martin-Walser-Abend ein – am 4. Oktober 2023 um 19 Uhr. Mit dabei sind Frank Hertweck, Jörg Magenau, Denis Scheck und Julia Schröder. Anschließend wird Frank Hertwecks großartiger Film „Mein Diesseits – Unterwegs mit Martin Walser“ aus dem Jahre 2017 gezeigt. In den Hauptrollen: Martin Walser und Denis Scheck.  

2 Gedanken zu “Gedenkfeier für Martin Walser im Stuttgarter Schloss mit Iris Radisch und Arnold Stadler: „Er hat den Schmerz in Schönheit verwandelt, das Unglück in Sprachglück“

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