
Wo kommen wir her? Die Antwort ist einerseits schwierig. Denn wo soll man anfangen? Anderseits steht zumindest fest: die Eltern haben etwas damit zu tun. Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecher-Verlag schreibt in „Türschwellenkinder“: „Ich bin woanders. Doch selbst da, wo ich gerade bin, komme ich immer von dort her, wo ich anfangs war.“ Damit bestätigt er einen Eltern-Spruch, den die Schriftstellerin Kaska Bryla in Erinnerung behalten hat: „Vergiss nie, wo du herkommst!“
It’s a Family Affair
„Türschwellenkinder“ lautet der leicht verwinkelte Titel des Sammelbandes, den Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter (in dieser nichtalphabetischen Anordnung steht es auf dem Cover) herausgegeben haben. Allerdings sorgt der Untertitel für Klarheit: „Über die Arbeit der Eltern“. 26 Personen, „die heute in kreativ-künstlerischen Bereichen tätig sind“, erinnern sich an ihre Kindheit. An die Berufe, die ihre Eltern ausübten, und was sie davon damals gewusst haben. Auch wird nicht selten die Brücke geschlagen zur Gegenwart, zu dem, was man von den Eltern übernommen oder abgestoßen hat.
Herausgekommen ist eine schöne, prall gefüllte, mit Aufnahmen aus privaten Fotoalben geschmückte Erinnerungstruhe. Die autobiographischen Skizzen handeln längst nicht nur von der Arbeit der Eltern, sondern öffnen sich dem Leben als Kind. Man merkt den Autorinnen und Autoren an, dass die Beschäftigung mit dem Text eine besondere gewesen ist. Alle legen sich ins Zeug. Denn hier geht es ans Eingemachte. Nämlich um den Anfang von dem, was jetzt ist. It’s a Family Affair.
Die Gewissheit, unwissend zu sein
Zumeist sind die Rückblicke erfüllt von Liebe und Wärme und vom Respekt vor den Mühen der Eltern. Exemplarisch hält es Ulrike Almut Sandig („Leuchtende Schafe“) fest, die in einem Pfarrhaus im sächsischen Dorf Nauwalde aufgewachsen ist, das sich „etwa auf Knöchelhöhe, mitten im eingeschlafenen Fuß der DDR“ befand. Der Mutter verdanke sie „einen schwer zu erschütternden Glauben in die Sprache, das Spiel und den Gesang“. Und der Vater habe ihr „die Liebe zum Radio und zu Medien jeder Art“ vermittelt – „aber vor allem die Gewissheit darüber, dass wir im Grunde unseres menschlichen Verstandes unwissend sind.“
Die Prägung durch die Eltern ist unabweisbar. Kölns Literaturhaus-Chefin Bettina Fischer verweist auf die Kriegserfahrungen von Vater und Mutter: „Als Kinder nahmen wir sie auf unsere Weise wahr, die Ängste, Aggressionen, den Durchsetzungswillen. Wir finden vieles in unserem Leben wieder.“
Lesen und Lernen
Schier unendlich ist die Formenvielfalt der Prägungen. Dazu gehören auch das Vorbild und die Anregung. Nadire Biskin, deren Debütroman „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ im vergangenen Jahr bei dtv erschienen ist, erzählt, sie habe ihre Mutter zuweilen begleitet, wenn diese Büroräume putzen ging. „Es sollte mir eine Lehre sein“, habe die Mutter gesagt, und immer wieder „Oku!“ hinzugefügt. „Oku“ bedeute: „lesen und lernen“.
Bei aller Verbundenheit wollen die Texte keine Heiligenlegenden sein. Kritische Zwischentöne sind zu vernehmen. Bei der Schauspielerin und Dramatikerin Sasha Rau löste der „Lehrer.innenberuf“ sogar Wut aus: „Weil er die Eltern unzufrieden und streng machte. Und sie in ihrer Angst, etwas falsch zu machen, verschwanden.“ Krimiautorin Zoë Beck bekennt: „Ich lebe nichts von dem, was für mich vorgesehen und gewünscht war.“
„Schmutzkammer“ auf dem Hof
Die Verschiedenheit der Herkünfte ist so selbstverständlich wie markant. Lakonisch stellt die Dramatikerin Maria Milisavljevic fest: „Dass die Wohnung keine Miete kostete, war sehr praktisch, denn meine Mutter fand erstmal keine Arbeit.“ Markus Ostermair, dessen Debütroman „Der Sandler“ 2020 erschienen ist, wuchs auf einem Bauernhof auf. Er lenkt den Blick auf die „Schmutzkammer“, in der „wir das Stallgewand, die groben löchrigen Socken, die von Erde schweren Stiefel abstreiften“. Eine solche „Schmutzkammer“ habe es in den Häusern seiner Freunde nicht gegeben.
Hingegen stellt die Lyrikerin Martina Hefter fest: „Meine Kindheit im Hotel war frei und abenteuerlich.“ Sie träume immer mal davon, selbst ein kleines Hotel aufzumachen. Auch beim Schriftsteller Joachim Geil scheint die Lage eher entspannt gewesen zu sein: „Ich wurde das Opfer einer glücklichen Kindheit, für einen Schriftsteller eine echte Bürde … wenn sich nicht zum Glück erwiesen hätte, dass das alles ja gar nicht so war.“
Kirchenglocke in der Baumkrone
Dankbarkeit schimmert häufig auf. Literaturkritikerin Beate Tröger räumt ein, dass ihre Mutter einst ein wenig traurig geschaut habe, „wenn ich achtlos über ihr Hausfrauendasein sprach“. Diese Achtlosigkeit hat sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Die Mutter habe für alle genäht, „auch für das Dorf“, obwohl sie „keine gelernte Schneiderin“ gewesen sei. Sie habe Illustrationen für Poesiealben geliefert (obwohl „keine gelernte Grafikerin“), die große Familie bekocht (obwohl „keine gelernte Köchin“), den riesigen Garten bewirtschaftet (obwohl „keine gelernte Gärtnerin“), drei Kinder großgezogen und sechs Menschen gepflegt (obwohl „keine gelernte Krankenschwester“), auch sei sie eine Stütze des Kirchenchors gewesen (obwohl „keine ausgebildete Sängerin“).
Anekdoten pflastern den Weg durch diesen kurzweiligen, auch berührenden Sammelband. Die Journalistin Doris Akrap erzählt vom Vater, einem Bauarbeiter, der ihr einmal hellauf begeistert ein Wasserbett in einer Wohnung zeigte, dem sie allerdings gar nichts abgewinnen konnte. Die Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski, deren Eltern sich im Auftrag einer evangelischen Stiftung um behinderte Mädchen kümmerten, erinnert sich an den Vater, der an Silvester die alte Kirchenglocke läutete, die in einer Baumkrone hing: „Er läutete sie auch am 9. November 1989, als Mutti Freudentränen weinend mit einem Sekt vor dem Fernseher stand und ich mir sicher war, es müsse Silvester sein.“ Und Michael Faber vom Faber & Faber Verlag führt uns in das Verlagshaus Edition Leipzig, wo sein Vater zu DDR-Zeiten Cheflektor war und sich der zehnjährige Sohn als Bürogehilfe beliebt machte: Er habe die Rolle eingenommen, „die in Romanen die Liftboys in den Grandhotels innehatten.“
„Irgendwann, warte nur, irgendwann das große Los“
Manch einer staunt, was beim Nachdenken alles freigeschaufelt wird. So wie der Schriftsteller Tijan Sila. Er schildert die Versuche seines schwerkranken Vaters, „sich zwischen Chemos selbstständig zu machen“: „Erst heute, da ich seinen Lebenslauf für diesen Essay erfasse, wird mir klar, was für ein verlorenes Unterfangen das war.“
Überhaupt – in welchem Verhältnis standen Arbeit und Leben? War die Arbeit das Leben, das Leben die Arbeit? Der Lyriker Arnold Maxwill beklagt, dass die Anerkennung ausgeblieben sei. Gehaltserhöhung, Betriebsausflug, Aufstiegschancen für den Vater? „Da kichert ja ganz Kevelaer.“ Schriftsteller Martin Becker sagt über seine Eltern: „Sie haben gearbeitet, um noch mehr zu arbeiten – und immerfort davon zu sprechen, wie sie irgendwann, warte nur, irgendwann das große Los ziehen.“
„Meine Kindheit war eine vielw:örtliche“
Vieles ist hier zu entdecken. José F. A. Oliver, der 2021 den Heinrich-Böll-Preis erhalten hat, ziseliert sein Aufwachsen zwischen dem Andalusischen und dem Alemannischen, dabei konsequent das Wort im Wort aufzeigend, wie es seine Art ist: „Meine Kindheit war eine vielw:örtliche.“ Der Musiker FM Einheit hat auf den Baustellen der Kindheit – der Vater war Architekt – jene Materialien entdeckt, „die mich bis heute in meiner Musik bewegen und verführen.“ Und der Autor und Übersetzer Henning Ahrens empfindet es „inzwischen“ als Privileg, einen Landwirt als Vater gehabt zu haben, und bedauert, „dass meine zwei Söhne nicht auf einem Hof aufgewachsen sind.“
Haben es die Kinder, die hier als Erwachsene zu Wort kommen, heute „besser“ als ihre Eltern? Das war nicht die Hauptfrage des Bandes. Aber die Antwort lautet im Zweifel: Ja.
Martin Oehlen
Der Band bietet Texte
von Henning Ahrens, Doris Akrap, Zoë Beck, Martin Becker, Nadire Biskin, Kaska Bryla, FM Einheit, Michael Faber, Bettina Fischer, Joachim Geil, Lütfiye Güzel, Martina Hefter, Ozan Zakariya Keskinkilic, Arnold Maxwill, Maria Milisavljević , José F. A. Oliver, Markus Ostermair, Maria-Christina Piwowarski, Sasha Rau, Ulrike Almut Sandig, John Sauter, Tijan Sila, Jörg Sundermeier, Johann P. Tammen, Beate Tröger und Senthuran Varatharajah. Die Veröffentlichung wird gefördert vom Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt.
Lesung
im Literaturhaus Köln am 3. Mai 2023 um 19. 30 Uhr (auch im Livestream). Wolfgang Schiffer, einer der beiden Herausgeber, stellt den Band im Gespräch mit Martin Becker, Nadire Biskin und Beate Tröger vor.
„Türschwellenkinder – Über die Arbeit der Eltern“, hrsg. von Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter, Elif Verlag, 252 Seiten, 24 Euro.

Hab‘ herzlichen Dank, lieber Martin, für diese ausführliche Besprechung. Es macht Freude, so noch einmal auf diese Arbeit so vieler zurückblicken zu können. Danke.
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Herzlichen Dank, lieber Wolfgang! Es ist ein vortreffliches Panorama, das die Herausgeber hier bieten. Viele Anknüpfungspunkte für viele Leserinnen und Leser.
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