
In fast jedem ihrer seltenen Interviews, so sagt man, habe Gwendolyn Brooks diese Geschichte erzählt. Wie sie im Mai 1950 in ihrer winzigen Wohnung in Chicago gestanden und sich für einen Kinobesuch mit ihrem kleinen Sohn fertiggemacht habe. Wie ein Zeitungsreporter sie angerufen und ihr mitgeteilt habe, dass sie für ihren Gedichtband „Annie Allen“ den Pulitzerpreis für Lyrik bekommen habe. Als erste schwarze Autorin überhaupt. Wie sie nichts von dem Kinofilm mitbekommen habe, weil sie viel zu verwirrt gewesen sei, um der Handlung zu folgen.
Ein Roman und über ein Dutzend Lyrikbände
Drei Jahre später veröffentlicht Gwendolyn Brooks, 1917 in Topeka, Kansas, geboren, ihren ersten Roman „Maud Martha“. Das schmale, rund 150 Seiten umfassende Buch, das jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erscheint, wird ihr einziges Prosawerk bleiben. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 veröffentlicht Gwendolyn Brooks mehr als ein Dutzend Lyrikbände. Sie erhält zahlreiche Preise und Ehrenauszeichnungen und wird – wieder als erste Schwarze überhaupt – in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen. Eines ihrer Gedichte, „We Real Cool“, gehört inzwischen zur Pflichtlektüre an vielen Schulen.
Wie in den meisten ihrer Gedichte thematisiert Gwendolyn Brooks in „Maud Martha“ das Leben von Schwarzen in einem Land, in dem subtil oder offen geäußerter Rassismus zum Alltag gehört. In 34 kurzen, mitunter nur zwei Seiten umfassenden Kapiteln schildert sie eine Welt, die aus Armut und verpassten Chancen besteht.
Großmaul mit Bronzehaut
Maud Martha wird in den 1920er Jahren in eine schwarze Arbeiterfamilie hineingeboren. Das Geld ist knapp in dem Fünf-Personen-Haushalt. Das Gehalt des Vaters reicht kaum aus für die Instandhaltung des maroden Häuschens, in dem Maud mit zwei Geschwistern aufwächst. Sie heiratet jung, Paul Phillipps, einen Mann mit hochfliegenden Plänen und einer Haut, die wie Bronze schimmert. Sie selber hat „die Farbe von purem Kakao“ und ist überzeugt davon, „dass er sieben Tage die Woche was Besseres haben könnte als dieses schwarze Gör“.
Doch der Mann mit der Bronzehaut entpuppt sich schnell als Großmaul, dessen Traum von einer „todschicken“ Vierzimmerwohnung an den Realitäten des Lebens scheitert. Das Gehalt des jungen Ehepaares reicht kaum für eine möblierte Kitchenette, ein dunkles Zweizimmer-Apartment im dritten Stock eines grauen Steingebäudes. „In der Küche standen ein Tisch mit einer Wachstuchdecke, zwei Küchenstühle, ein Klappstuhl, ein Unterschrank, ein brauner, hölzerner Eisschrank und ein Gasherd mit drei Flammen“, von denen nur eine funktioniert. Kakerlaken huschen über den Linoleumboden, und „während man sich das endlose, enge, klagende Treppenhaus hochzog“, hört man das Geräusch „kleiner grauer Füße, die kratzend davonflitzten“.
„Die hungrige Leere“
Bald wird ein erstes Kind geboren, und Maud gibt ihren Bürojob auf, um sich um die kleine Paulette zu kümmern. Längst hat sie begriffen, dass Paul Phillips weder ihre kulturellen Interessen noch ihre Vorstellungen von einem harmonischen Familienleben teilt. „Sie hatte einen Fels gewollt.“ Bekommen hat sie einen Mann, „der nie auf die Idee kam, seiner Mutter zum Geburtstag einen Blumenstrauß zu schenken, und der seiner Frau zum Geburtstag (wenn er daran dachte), eine Schachtel Drugstore-Bonbons in grünem Drugstorepapier in den Schoß warf.“
In einer schlichten, pointierten Sprache schildert Gwendolyn Brooks das wachsende Selbstbewusstsein der jungen Frau, die zunehmend empfindlich auf den Alltagsrassismus der weißen Mehrheitsbevölkerung reagiert. „In ihr waren diese Brocken von ratlosem Hass, einem Hass ohne Augen, ohne Lächeln und – das schmerzte sie besonders, erzeugte eine hungrige Leere – fast ohne Stimme.“
Im Kino allein unter Weißen
Bedrückend ist die Schilderung eines Kinobesuchs, bei dem Paul und sie die einzigen Schwarzen im Publikum sind. „Die schlendernden Frauen waren raffiniert gekleidet. Sie wirkten – aufgetakelt. Gut versorgt. Und als hätten sie noch nie im Leben eine Kakerlake oder Ratte gesehen.“
Angespannt schaut sich das Ehepaar nach der Vorstellung um. „Sie hofften, keinen grausamen Blicken zu begegnen. Sie hofften, niemand würde gestört dreinschauen. Sie hatten den Film so sehr genossen, sie waren so glücklich, sie wollten lachen, freundlich zu den anderen Kinobesuchern sagen: Gut, nicht wahr? War das nicht prima? Das konnten sie natürlich nicht. Aber wenn nur niemand irritiert dreinschaute…“
„Mit wilder Freude“
Wir begleiten Maud bis ins Jahr 1945. Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Paul scheint gefallen zu sein, doch die junge Frau ist an diesem warmen Spätsommertag von einer nahezu überschäumenden Lebensfreude erfüllt. „In einem Augenblick wie diesem konnte man selbst an den Tod mit wilder Freude denken und spüren, dass der Tod ein Teil des Lebens war: dass das Leben gut war und der Tod auch gut sein würde.“ Maud Martha und ihre Tochter werden ihren Weg gehen. Und sie werden sich ihre Würde bewahren in einer Welt, in der sich schwarze Menschen scheuen, ihre Begeisterung für einen Kinofilm mit ihren weißen Sitznachbarn zu teilen.
Gwendolyn Brooks‘ Verdienst ist es, in ihrem fein erzählten Roman den allgegenwärtigen Rassismus jener (und auch der heutigen) Zeit sichtbar zu machen und zu benennen, was es heißt, arm, schwarz und voller Träume zu sein. Umso bedauerlicher ist, dass „Maud Martha“ der einzige Roman dieser fabelhaften Autorin geblieben ist. Wir hätten gern mehr gelesen über Maud, über ihre Tochter Paulette und das zweite Kind, das sie irgendwann zu bekommen hofft.
Petra Pluwatsch
Gwendolyn Brooks: „Maud Martha“, dt. von Andrea Ott, Manesse, 156 Seiten, 22 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
