„Für wen habe ich das alles durchgestanden“: Michel Bergmann erzählt in „Mameleben oder das gestohlene Glück“ von seiner Mutter, die den Holocaust überlebt hat  

In Straßburg hat Charlotte Bergmann lange Zeit gelebt. Foto: Bücheratlas

Dafür habe ich überlebt!“ Worte seiner Mutter Charlotte, die Michel Bergmann viel zu oft gehört hat in seinem Leben. Er kann noch weitere Sätze dieser Art aufzählen. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich lieber nicht überlebt.“ „Da überlebt man, und das ist der Dank!“ „Für wen habe ich das alles durchgestanden?“ – allesamt Argumente, denen er, das einzige Kind jüdischer Eltern, nichts entgegenzusetzen hatte.

„So wie sie zu lieben vermag“

Und die ihn, den längst Erwachsenen, noch immer bis ins Mark treffen. „Manchmal kam es mir so vor, als hätte sie mich nur geboren, um jemanden zu haben, dem sie Vorwürfe machen kann“, schreibt Michel Bergmann in seinem bewegenden Buch „Mameleben oder das gestohlene Glück“. Gewiss, seine Mutter habe ihn geliebt, „so wie sie zu lieben vermag“, nämlich „besitzergreifend, mit aller Besessenheit und allen Einschränkungen“. Damit habe sie seiner Seele Schaden zugefügt und ihn zu einem Menschen gemacht, dessen Pubertät nie geendet habe. „Unverstandensein als Lebenssinn. Der Selbstzweifel als Zweifel an der Welt.“

Michel Bergmann, am 6. Januar 1945 in einem Schweizer Internierungslager geboren, wächst in Frankfurt am Main auf. Der Vater Emanuel, gezeichnet von einer jahrelangen Flucht vor dem NS-Rassenwahn, stirbt früh. Die Mutter übernimmt das Wäschegeschäft der Familie, muss das Unternehmen jedoch nach wenigen Jahren verkaufen. Sie heiratet ein zweites Mal und zieht mit ihrem Mann nach Straßburg.

Eine Ehe nur für den Sohn

Doch die Ehe mit Monsieur Bernard, der eigentlich Baruch heißt und Frau und Kind im Holocaust verloren hat, steht unter keinem guten Stern. Der Kaufmann aus dem Elsässischen entpuppt sich als grober Klotz, der jeden Franc zweimal umdreht. Nachts lassen ihn Alpträume aus dem Schlaf hochfahren, und er wähnt sich wieder im KZ Auschwitz, das er als einziger aus seiner Familie überlebt hat.

Allein für ihn, den Sohn, habe sie sich auf diesen Mann eingelassen, wird Charlotte ihrem einzigen Kind viele Jahre später vorwerfen. Damit er, der Nichtsnutz, der alle ihre Erwartungen enttäuscht habe, wirtschaftlich abgesichert sei.

„Ich bin nicht in ihrem Sinne geraten“

Vorsichtig nur, als beträte er ein vielfach vermintes Gebiet, nähert sich Michel Bergmann dieser schönen, dieser schrecklichen Mutter, die ihn mit ihren Worten mehr verletzen kann als jeder andere Mensch auf der Welt. Zwar habe sie versucht, ihm all das zu geben, was ihr in ihrer Kindheit und Jugend verwehrt geblieben sei. „Doch es war eine fordernde Liebe. Eine verpflichtende Liebe.“ Eine „unerbittliche“ und „toxische“ Liebe, geboren aus den Erfahrungen einer traumatisierten jungen Frau, deren Familie in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet wurde.

Die übergroßen Erwartungen der Mutter erdrücken den Heranwachsenden, und noch als Erwachsener ringt der Sohn verzweifelt um die Anerkennung der alten Dame. Er weiß, dass er ihren Ansprüchen nie genügen wird, und er ahnt, warum das so ist. „Ich bin nicht in ihrem Sinne geraten. Ich kann ihre wunderbaren Eltern, genialen Geschwister, großartigen Cousinen und Cousins nicht ersetzen. Sie wurden im Höllenfeuer verschlungen, und ich kann ihr Leben nicht fortführen. Obwohl das offenbar meine Bestimmung wäre.“

Flucht in den Tod

Erst nach ihrem Tod beginnt Michel Bergmann, inzwischen ein bekannter TV-Produzent, Regisseur und Autor, sich intensiv mit der Lebensgeschichte der Charlotte Bergmann, geborene Meinstein, auseinanderzusetzen. Sie war 1916 im bayerischen Zirndorf zur Welt gekommen. Vater Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg. Schulabbruch ein halbes Jahr vor dem Abitur. Flucht nach Paris. Interniert im französischen Sammellager Gurs.

Das Kriegsende erlebt sie, die zu den wenigen Überlebenden ihrer Familie gehört, in einem Internierungslager in der Schweiz. Im Dezember 2001 stürzt sich die 85-Jährige in ihrer Wohnung in Straßburg aus dem Fenster. Einsam sei sie gewesen, sagt eine Ärztin, die sie zuvor behandelt hat. Einsam, alt und krank.    

Die Prägung für die Nachfahren

Wie viele andere Söhne und Töchter von Überlebenden des Holocaust muss auch der Autor „das Wort Trauma lernen“ und begreifen, „dass Auschwitz immer des Nachts über die Eltern kommt“. Auch nach ihrem Tod schmerzen „die Angriffe und Eingriffe, die Übergriffe“ seitens der Mutter, denen er Zeit seines Lebens ausgesetzt war. Doch er sieht auch, warum aus Charlotte Bergmann diese scheinbar hartherzige und selbstgerechte Frau geworden ist, die er „so sehr geliebt und so sehr missverstanden“ hat.    

So ist „Mameleben“ sehr viel mehr als die Geschichte einer verkorksten Mutter-Sohn-Beziehung. Michel Bergmann thematisiert so eindringlich, wie man es selten gelesen hat, die Auswirkungen des Holocaust auf die nächste Generation, die die Schrecken des Nazi-Regimes zwar nicht selbst erlebt hat, aber indirekt stark davon betroffen ist. „Wir alle wären andere“, schreibt Michel Bergmann am Ende seines Buches. „Und unsere Kinder ebenfalls. Davon bin ich fest überzeugt.“

Petra Pluwatsch

Lesungen

mit Michel Bergmann in Burgdorf in Wegeners Buchhandlung (19. April 2023), Berlin in der Buchhandlung Timbooktu (26. April), Kronberg in der Bücherstube  (7. Mai), Frankfurt am Main in der Buchhandlung Hugendubel (8. Mai), Neu-Anspach im Ev. Gemeindezentrum (9. Mai), Dillenburg in der Buchhandlung Rübezahl (10. Mai), Rösrath im Wöllner-Stift Hoffnungsthal (12. Mai), Heidelberg bei Schmitt & Hahn Bahnhofsbuchhandlungen (23. Mai), Burscheid in der Buchhandlung Hentschel (26. Mai), München im Jüdischen Gemeindeszentrum (13. Juni), Darmstadt in der Stadtkirche (14. Juni), Hanau bei Dausien (15. Juni), Bad König in der Rentmeisterei (26. August) und in Osnabrück in den Altstädter Bücherstuben (21. September 2023).  

Michel Bergmann: „Mameleben oder das gestohlene Glück“, Diogenes, 256 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

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