
Ein Jubiläum: Vor 60 Jahren schrieben John und Michelle Phillips „California Dreaming“. Den Popsong-Klassiker haben viele gecovert, darunter Barry McGuire, The Mamas & The Papas und die Beach Boys. Es ist der Song von Licht und Wärme: Menschen in einer wintergrauen Metropole, es kann nur New York sein, sehnen sich nach der Sonne von Los Angeles. Daran darf man denken, wenn man den Bildband „Die wiederentdeckte Moderne“ aufschlägt. Er präsentiert lichtdurchflute Bauwerke in Kalifornien, die der großartige Julias Shulman fotografiert hat – er wurde 1910 in New York geboren und ist 2009 in Los Angeles gestorben.
„Nur wenig bekannt“
Über 300 Bauwerke versammelt der Band „Die widerentdeckte Moderne“, den der Taschen Verlag erstmals im Jahre 2000 veröffentlicht hat und der nun in einer preiswerten und aktualisierten Nachauflage vorliegt. Alle Gebäude werden mit jeweils mehreren Bildern (in Farbe und Schwarz-Weiß) und in den meisten Fällen mit dreisprachigen Erläuterungen von Pierluigi Serraino vorgestellt. Es handelt sich vor allem um private Gebäude, aber auch um einige öffentliche – Banken, Kirchen, Stadien. Sie sind zwischen 1939 und 1977 entstanden.
Ausdrücklich ist der Band bestrebt, auf das Werk des herausragenden Architekturfotografen Julius Shulman aufmerksam zu machen, „das einer breiten Öffentlichkeit nur wenig bekannt ist“, wie Pierluigi Serraino meint. Damit verbunden soll „die Diskussion über die Kalifornische Moderne und die moderne Architektur im Mittelwesten“ der USA belebt werden. Denn diese sei bislang nicht hinreichend gewürdigt worden – weder von der Öffentlichkeit noch von der Forschung.
Unter der Garage ein Luftschutzbunker
Tatsächlich ist diese Zurückhaltung erstaunlich. Denn Julius Shulmans Aufnahmen lassen keinen Zweifel daran, dass es sich durchweg um ambitionierte und teilweise spektakuläre Bauten handelt. Das liegt nicht zuletzt an den Auftraggebern, die offenbar keine Finanzierungsprobleme kannten, um ihre Vorstellungen umzusetzen. Ausschweifend und freistehend – das ist die Richtschnur. Nichts von der Stange. Es geht um Unterkünfte mit kleinen Extras. Ein Beispiel? Unter der Garage der Pereira Residence in Los Angeles, erbaut im „International Style“ mit ineinander verschmelzenden Innen- und Außenräumen im Kubakrisenjahr 1962, befindet sich ein Luftschutzbunker.
Die beteiligten Architekturbüros sahen sich nicht nur mit eigenwilligen Wünschen konfrontiert. Auch hatten sie zuweilen natürliche Herausforderungen zu meistern, die nicht alle Tage auftreten. So musste um ehrwürdige Bäume herum gebaut werden, war die Stabilität auf sandigem Grund gefährdet oder kragten die Gebäude über einen Abhang hinaus. Das ging nicht immer gut.
Haus am Hang für 20 Jahre
Richard O. Spencer galt lange – so lesen wir es – als Experte für Bauten auf „unbebaubaren“ Hanggrundstücken. Ein besonders schönes Objekt hat er sich im Jahre 1955 selbst errichtet, die Spencer Residence in Malibu, etwa 20 Meter oberhalb des Coastal Highway (sie ist auf dem Cover des Bandes abgebildet). Der Clou der Anlage war eine „originelle Tragwerkslösung“. Doch leider hielt sie nicht ewig (also nicht bis heute): Nach 20 Jahren stürzte das Haus ein, „angeblich aufgrund einer fehlenden Bodenfestigkeitsanalyse“.
Gerne hat Shulman seine Kamera am Abend oder in der Nacht in Stellung gebracht. Oft brennt stimmungsvoll das Kunstlicht. Zudem prägt ein warmer Rot-Ton viele Aufnahmen. Das liegt nicht an einem altersbedingten Farbstich. Vielmehr wurde in den erlesenen Gebäuden auffallend viel Holz verwendet. Auch für die Decken (mit besonderer Neigung zum Lattenwerk). Und wer es sich leisten konnte, griff zum Redwood, der sich in Kalifornien besonders wohlfühlt und deshalb zum „Staatsbaum“ des US-Bundesstaates gekürt worden ist. Aber selbstverständlich ist auch eine Mahagoni-Täfelung möglich, die Douglaskiefer wird geschätzt, nicht zuletzt Zedern- und Zypressenholz.
Die Natur ragt immer ins Bild
Fast sieht es nach einem „grünen“ Bauen aus. Das liegt an Julius Shulman. Der Fotograf versuchte immerzu, die Natur ins Bild zu rücken. Vielleicht haben wir unter den Hunderten von Fotos eines übersehen – aber unser Eindruck ist, dass es auf allen irgendwo grünt (ja, auch bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen). Manchmal ist es nur eine im Vordergrund angeschnittene Palme am Pool oder ein Gummibaumblatt vor der Sofalandschaft. Und wo sie zum Konzept gehört, drängt sich die Natur frei aufblühend ins Bild – als umbaute Innenhofinsel oder als Ausblick durch raumhohe Fensterfronten.
Die Shulman-Aufnahmen dokumentieren eine Architekturperiode, die viel Glas verwendet hat und auch mit Sonnenlichteffekten (an der Wand, am Kamin) ihr Spiel spielte. Die Fotografien zeigen aber nicht nur die großen Linien der Gebäude. Sie erlauben zudem einen Blick in die Lebenswelt der „oberen Zehntausend“ in Kalifornien und Umgebung.
„Raum für eine ungezwungene Lebensart“
Die meisten Aufnahmen stammen aus den 50er und 60er Jahren. Kulturhistorisch spannend ist, was man damals unter „Schöner Wohnen“ verstand: Erschreckend aufgeräumte und bücherarme Wohnräume, zeitmodisch eingekleidete Bewohner und vor der Haustüre Straßenkreuzer, die so flach wie Flundern sind und nichts wissen wollen von der SUV-Bulligkeit unserer Tage (aber Benzinschlucker waren sie gewiss auch).
Die Bauherrinnen und Bauherren wussten recht genau, was sie wollten. So ging es bei der Mudge-Residence (Architekt: Kazumi Adachi) um „hinreichend Raum für eine ungezwungene Lebensart“. Bei der Fenn Residence (Architekt: William S. Beckett) musste je ein „Rückzugsgebiet“ für jedes Familienmitglied eingeplant werden. Und bei der Schacker Residence (Architekt: Rex Lotery) – für „ein kinderloses Ehepaar in den besten Jahren“ – wurde „Gastlichkeit großgeschrieben“. Julius Shulmans Architekturfotografien zeigen, dass solche Wünsche wahr werden können.
Martin Oehlen
Der Song „California Dreaming“
geht so los: „All the leaves are brown / And the sky is gray / I’ve been for a walk / On a winter’s day / I’d be safe and warm / If I was in L.A. // California dreamin‘ / On such a winter’s day …“
Auf diesem Blog
haben wir schon einige Architekturbände aus dem Taschen-Verlag vorgestellt. Zuletzt das Werkverzeichnis von Jean Nouvel (HIER) und davor einen Band über naturnahes Bauen unter dem Titel „Dig it“ (HIER).
Pierluigi Serraino: „Julius Shulman: Modernism Rediscovered – Die wiederentdeckte Moderne – La redécouverte d’un modernisme“, Taschen Verlag, dreisprachige Ausgabe, 576 Seiten, 30 Euro.
