„Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht“ – Judith Hermanns packende Poetikvorlesung „Wir hätten uns alles gesagt“

Ein- und Ausblicke bot Judith Hermann im Rahmen ihrer Poetikdozentur in Frankfurt. Foto: Bücheratlas

Eine Poetikdozentur ist kein Verhör. So sagt es Judith Hermann. Gleichwohl kam es der Autorin viel beachteter Bücher – von den Erzählungen „Sommerhaus, später“ (1998) bis zum Roman „Daheim“ (2021) – genauso vor, als sie im vergangenen Sommer in Frankfurt ihre dreiteilige Vorlesungsreihe abhielt. Also wie ein Verhör. Allerdings eines der besonderen Art: „Ich verhöre mich selbst.“

„Das Herz der Materie“

„Wir hätten uns alles gesagt“ ist der Titel der nun als Buch erscheinenden Poetikdozentur, der ursprünglich noch der Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ beigegeben war. Darin erfahren wir von jenem jeweils goldenen Satz, der dann einen Raum und eine Figur benötige, um eine Geschichte zu werden.  Weiter ist vom Instinkt die Rede, was eine Erzählung ausmache. Immer wieder auch vom Verschweigen, vom Fehlenden, vom Gespenst einer jeden Geschichte, vom „Herz der Materie“, das nicht erzählbar sei.

Schreiben bedeute Zeigen und Verbergen, heißt es. Es sei ein Schutzraum, in dem sich die Autorin träumend einrichte: Die Ich-Erzählerin sei selbstverständlich sie selber, und selbstverständlich sei sie genau das nicht. Im Rückblick ist sich die Autorin bisweilen nicht mehr sicher, lesen wir, welcher Teil einer Erzählung stattgefunden habe, und welcher ausgedacht sei. Und das Ende müsse immer offen sein.

Der Vater kochte, was sie nicht essen wollte

All das wird nicht literaturkursmäßig durchtheoretisiert, sondern anhand von Geschichten, die Judith Hermann noch nicht erzählt hat, nahezu beiläufig dargereicht. All diese Figuren! Es geht los mit Dr. Dreehüs. Der Psychoanalytiker hatte in den zehn Jahren der Analyse „vielleicht fünf Äußerungen“ getan und ansonsten die Patientin ihrem Selbstgespräch überlassen. „Man kann es nennen, wie man will: letztlich habe ich ihm Geschichten erzählt.“ So sei es ideal für sie gewesen. Beim zufälligen, ganz und gar privaten und auch ein wenig durch den Alkohol beeinflussten Wiedersehen ist Dr. Dreehüs deutlich gesprächiger. Sie sei ihm ein wenig wehleidig vorgekommen, sagt er, und das gefällt der Autorin durchaus.

Was ein klassisches Thema für die Psychoanalyse ist, wird hier intensiv aufbereitet: die Kindheit. Da ist – puh, eine Binse – vieles angelegt. Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass das Dasein voller Rätsel ist. Dem Vater sei es ein Anliegen gewesen, sagt Judith Hermann, „mich in Angst zu versetzen“, und er habe absichtlich gekocht, „was ich nicht essen wollte“. Im Jahre 1990 kommt er in die geschlossene Psychiatrie eines Berliner Krankenhauses und bleibt dort fünf Jahre, ehe er in die offene Psychiatrie wechselt und im Jahre 2000 entlassen wird. Und die Mutter – sie fehlte oft.

„Mein Geheimnis“

Einmal rutscht der Autorin in einer Auseinandersetzung mit dem Freund Jon der Satz heraus, sie sei ein traumatisiertes Kind. Nun kennt nicht nur Jon „mein Geheimnis“ (ein ganz anderes als das von Arno Geiger, von dem aktuell viel die Rede ist – siehe HIER), sondern auch die Öffentlichkeit.

Dann werden wir eingeführt in das innig-distanzierte Leben in der Freundesclique. Ada war deren Leitwölfin. „Ich habe ihr nie vertraut, vielleicht fällt es mir daher schwer zu sagen, ich sei mit ihr befreundet gewesen. Lieber möchte ich sagen, ich habe sie gekannt. Einfacher wäre es zu sagen, ich habe Ada geliebt.“

„Ich bin nicht sicher“

Das ist der tastende Judith-Hermann-Ton, der sich schon beim Debüt „Sommerhaus, später“ einprägte. Es ist der Band, mit dem Judith Hermann vor 25 Jahren der literarische Durchbruch gelang und der nun zur Feier des Jubiläums in einer Sonderausgabe in Leinen erscheint. Gleich zum Auftakt, in der Kurzgeschichte „Rote Korallen“, fragt die Erzählerin: „Ist das die Geschichte, die ich erzählen will? Ich bin nicht sicher.“ Und den darauffolgenden Satz wiederholt Judith Hermann jetzt, 25 Jahre später, in ihrer prächtig unterhaltenden Werkstatt-Erkundung: „Nicht wirklich sicher.“

Selten war eine Dozentur so weit vom Dozieren entfernt wie diese. Judith Hermann erzählt Geschichten, um zu erzählen, wie sie Geschichten erzählt. Was sie da zutage fördert, ist in Sachen Leben: packend und erschütternd, und ist in Sachen Schreiben: anschaulich und erhellend. Die Autorin schürft im Bergwerk, das ihr am nächsten liegt. Nämlich dem ganz eigenen. „Ich schreibe über mich.“ sagt sie. „Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“

Martin Oehlen

Lesungen

mit Judith Hermann in Stockholm (17. 3. 2023), in Umea in Schweden (18. 3.), im Literaturhaus Frankfurt (20. 3.), bei Kaufleuten in Zürich (21. 3.), in der Kantonsbibliothek Thurgau in Frauenfeld in der Schweiz (22. 3.), im Literaturhaus Basel (23. 3.), im Literaturhaus Freiburg (27. 3.), im Museum für Literatur in Karlsruhe (28. 3.), in Berlin im Theater Delphi (31. 3.), im Waschhaus in Potsdam (2. 4.), bei Knesebeck Elf in Berlin (3. 4.), bei Bücher Wenner in Osnabrück (17. 4.), in der Centralstation in Darmstadt (19. 4.), im Literaturhaus München (20. 3.), im Benediktinerstift Göttweig in Österreich (21. 4.), in der Buchhandlung Dombrowsky in Regensburg (25. 4.), im Literaturhaus Leipzig (26. 4.), auf der Leipziger Buchmesse (27. 4.) sowie bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen (7. 5. 2023)

Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“, S. Fischer, 188 Seiten, 23 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

Judith Hermann: Sommerhaus, später“, Jubiläumsausgabe in Leinen, S. Fischer, 204 Seiten, 23 Euro (die Taschenbuchausgabe kostet 12 Euro).

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