
Barrington Jedidiah Walker lebt undercover. Ein begehrlicher Blick, eine Berührung, die nicht sein darf, und er könnte auffliegen. Denn Barrington Jedidiah Walker, seit 50 Jahren verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern, ist schwul. Eine „Schwuchtel“, wie er selber sagt. Ein Mann, der Männer liebt, und das darf nicht sein in der Welt der starken Kerle, in der er aufgewachsen ist. So hat er geheiratet, damals, in den 1960er Jahren auf Antigua. Ist aus der Karibik nach London gezogen und hat mit der blutjungen Carmel widerwillig zwei Kinder gezeugt.
Das Ich und die Welt
Jetzt ist er 74 Jahre alt und hat keine Lust mehr, sein wahres Ich vor der Welt zu verbergen. Barrington Jedidiah Walker, den seine Freunde Barry, nennen, will sich scheiden lassen, um mit seinem langjährigen Liebhaber Morris zusammenzuleben. Ganz egal, was der Rest der Welt davon hält. Sogar seinem alten Bekannten Peaceman wird er sagen, dass er eine „Schwuchtel“ ist. „Schluss mit dem Hin und Her in meinem Kopf, Schluss mit der ganzen Feigheit, dem Hin-und-Her-Gewiege von Kontra und Pro.“
Dennoch sollen noch bald fünf Monate vergehen, bis Ich-Erzähler Barry den Mut findet, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Zu sehr stecken ihm die Erfahrungen seiner Jugend in den Knochen, als er Angst hatte, „irgendwann mit dem Vorwurf der Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht zu landen oder auf einem OP-Tisch mit einem Stück Holz zwischen den Zähnen, während Elektroschocks Teile meines Hirns für immer zerstörten, oder gleich im Irrenhaus, vollgepumpt mit Medikamenten, die jeden zurechnungsfähigen Mann in den Wahnsinn treiben“.
Ehefrau hat den „Kiefer eines Salzwasserkrokodils“
Ganz zu schweigen von seiner Angst vor Ehefrau Carmel, die keine Ahnung hat von Barrys sexueller Orientierung. Sie hat sich in 50 frustrierenden Ehejahren vom naiven Dummchen zu einer scharfzüngigen Matrone entwickelt und macht keine Gefangenen. „Sie ist die Sphinx, die vor den Toren Thebens wacht“, sagt er, als sie ihn nach einer durchzechten Nacht mit Vorwürfen überhäuft. „Den Kopf einer Frau, den Körper einer Löwin, Adlerschwingen, Elefantengedächtnis und Kiefer eines Salzwasserkrokodils, die einen Druck von rund dreihundert Kilo pro Quadratzentimeter ausüben können und jederzeit bereit sind, mir den Kopf abzubeißen.“
Wie Barry es dennoch schafft, nicht nur Peaceman zu erzählen, was Sache ist, davon erzählt Bernardine Evaristos hinreißender Coming-out-Roman „Mr. Loverman“. Die britische Autorin mit nigerianischen Wurzeln ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Londoner Brunel University und bekam 2019 für ihren Roman „Mädchen, Frau etc.“ den renommierten Booker-Preis. In ihrem preisgekrönten Werk über zwölf schwarze britische Frauen setzt sie sich mit Rassismus, Sexismus und den diversen Spielarten sexueller Orientierung auseinander – Themen, die auch in „Mr. Loverman“ eine zentrale Rolle spielen.
Zweifel und Existenzangst
Und doch kommt ihr jüngstes Werk so ganz anders daher als „Mädchen, Frau etc.“. Was zweifellos an Mr. Loverman selbst liegt, jenem selbstverliebten karibischen Macho. Barrington Jedidiah Walker ist ein selbstgerechter alter Gockel, verfangen in seinen ureigenen Wertvorstellungen, und dabei so erfrischend ehrlich, dass man ihm jeden noch so blöden Spruch verzeiht. Urkomisch die Schilderung seines ersten, von zu viel Rum befeuerten Coming-out im Familienkreis. „Ein Schwanzlutscher bin ich“, knallt er seinem überforderten Enkelsohn und dessen „kleinen Rowdys“ entgegen, als die eines Nachts in seinem Haus schwulenfeindliche Rap-Musik hören.
Eine Herausforderung dürfte für Tanja Handels die – sehr gelungene – Übersetzung von „Mr. Loverman“ gewesen sein. Barry erzählt seine Geschichte im karibischen Englisch seiner Heimatinsel Antigua und bedient sich einer mitunter recht drastischen Sprache. Eventuellen Irritationen der Leserinnen und Leser begegnet der Tropen-Verlag daher mit dem Hinweis, die Übersetzung orientiere sich bei kritischen Ausdrucksweisen, Sprachfärbungen und Vergleichen eng am Original.
Der Kuss in der Schwulenbar
Langsam nur, begleitet von Existenzangst und vielen Zweifeln, findet Barry den Mut, sich zu Morris zu bekennen. Es ist ein schmerzlicher Prozess, gemildert durch den selbstironischen Grundton des Ich-Erzählers. Oft genug muss er sich mit seinen eigenen Vorurteilten Homosexuellen gegenüber auseinandersetzten. Ich schwul? Nein, ein richtiger Mann wie Barrington Jedidiah Walker ist nicht schwul. Er ist lediglich einer, der seinen Freund Morris liebt.
Zu den anrührendsten Szenen gehört sicherlich jene in einer Londoner Schwulenbar, in der sich die Hände der beiden alten Herren für ein paar Sekunden berühren. Es ist „das erste Mal seit 60 Jahren, dass wir in der Öffentlichkeit so was wie körperliche Zuneigung zeigen.“ Erst als Morris ihm einen Kuss auf die Wange drückt, ist für Barry Schluss. „Langsam, Morris, langsam. Erwart mal nicht von mir, dass ich gleich in fünf Minuten zum nächsten Quentin Crisp mutiere.“
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir Bernardine Evaristos preisgekrönten Roman „Mädchen, Frau etc.“ HIER vorgestellt.
Bernardine Evaristo: „Mr. Loverman“, dt. von Tanja Handels, Tropen, 332 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Klingt nach einem sehr spannenden Buch. Werde ich lesen. Sehr neugierig machende Rezension
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Vielen Dank für die freundliche Nachricht! Der Roman lohnt sich auf jeden Fall. Viel Vergnügen bei der Lektüre – und einen schönen Sonntag!
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