Flucht vor der Pest: Karina Sainz Borgo erzählt in „Das dritte Land“ von Angustias Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit

Foto: Bücheratlas

Die Pest wütet im Land hinter den östlichen Bergen. Die Pest, die die Alten dahinrafft und den Jungen den Verstand raubt. Die Pest, die in dem Roman „Das dritte Land“ der venezolanischen Autorin Karina Sainz Borgo für Hoffnungslosigkeit, für Armut und Lethargie steht. Sie macht die Menschen „nutzlos, bis sich Angst und Vergessen über uns legte. Ziellos wanderten wir umher, verloren in einer Welt aus Fieber und Eis“.

Aufbruch Richtung Westen

Die junge Angustias Romero will sich diesem Schicksal nicht beugen. Gemeinsam mit ihrem Mann Salveiro und den erst wenige Monate alten Söhnen Higinio und Salustio macht sie sich auf die beschwerliche Reise Richtung Westen. Weg von der Pest, weg von der „Schlange der Mutlosigkeit“, die – Angustias bemerkt es zu spät – längst auch ihren Ehemann gebissen und den schweigsamen Autoschlosser in ein apathisches Wrack verwandelt hat.

Die wenige Habe – die Möbel, das Bettzeug und Salveiros Werkzeuge – sind schnell verkauft. Mit „ein paar Geldstücken, drei Mandarinen und einem Rucksack mit etwas Wechselkleidung, zwei Babyflaschen und die Tütchen mit Milchpulver“ bricht das Ehepaar zu seiner rund 800 Kilometer langen Reise auf, „halb im Bus, halb zu Fuß“. Angustias, Friseurin von Beruf, steckt vor der Abreise noch schnell ihre kleine Haarschneideschere ein, das einzige Accessoire, was ihr von ihrem Frisiersalon geblieben ist.

Gestrandet auf einem Friedhof

Angustias und Salveiro Romero sind nicht die einzigen, die vor dem Elend in ihrer Heimat in ein anderes Land fliehen. „Den Trupp“, so nennen die Einheimischen die abgerissenen Menschen, die in langen Reihen auf der Überlandstraße durch das Zentralgebirge ziehen. Nachts schreckt Ich-Erzählerin Angustias aus Albträumen hoch. „Ich träumte, dass ich mich auf allen vieren vorwärtsbewegte, in eine Löwin verwandelt, die im Wind den Ort wittert, an dem die Gazellen Zuflucht suchen.“ Tagsüber kämpft sie mit Hunger und Durst. „Gott hat sich nicht dazu entschlossen, uns zu begleiten.“

In der Grenzregion zwischen den östlichen und den westlichen Bergen ist ihr Weg zu Ende. Higinio und Salustio sind tot. Die Zwillinge, geschwächt durch eine zu frühe Geburt, haben die Strapazen der langen Reise nicht überlebt. Und: Salveiros Verstand hat sich weiter vernebelt. Nach der Beerdigung der Söhne verschwindet er ohne ein Wort und lässt Angustias zurück auf dem „dritten Land“, einem illegalen Friedhof, auf dem die Kinder begraben sind.

Venezuela wird nicht genannt

„Das dritte Land“, 2021 unter dem Titel „El tercer pais“ erschienen, ist Karina Sainz Borgos zweiter Roman – ein Werk von archaischer Wucht, das von Anarchie, Gewalt und dem Überlebenswillen einer starken Frau erzählt. Die 1982 in Caracas geborene Journalistin lebt seit 2006 in Spanien und arbeitet für die Madrider Tageszeitung ABC und andere Presseorgane in Spanien und Lateinamerika. Mit ihrem Debüt „Nacht in Caracas“ landete sie 2019 einen internationalen Bestseller. Das Buch, das anhand des Schicksals einer jungen Frau den moralischen, gesellschaftlichen und politischen Niedergang Venezuelas thematisiert, wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Auch in ihrem aktuellen Roman setzt sich Karina Sainz Borgos eindrucksvoll mit den Zuständen in Venezuela auseinander, auch wenn sie ihr Geburtsland an keiner Stelle des Buches beim Namen nennt. Die Autorin schildert ein anonymes südamerikanisches Land, das den Menschen jedwede Hoffnung auf Veränderung nimmt und sie stattdessen unter „dieser Wolke aus Teilnahmslosigkeit“ begräbt – oder sie zu einer Flucht zwingt, die viele von ihnen in noch größere Not als zuvor stürzt.

Flüchtlinge am Grenzort

Angustias findet Zuflucht im „dritten Land“, einer steinigen Wüstenei im Grenzland zwischen Ost und West. Dort hat Visitación Salazar das Sagen, eine unkonventionelle Frau mit dunkler Haut, von Wespen umtost, der die Toten mehr am Herzen liegen als die Lebenden. Die Totengräberin hat auf der abgelegenen Brache einen illegalen Friedhof eingerichtet und beerdigt auf „Las Tolvaneras“ (dt. die Staubstürme) all jene, für die es in Mezquite weder eine Grabstätte noch ein letztes Gebet gibt.

Der kleine Grenzort wird überflutet von Flüchtlingen und versinkt in Gewalt und Anarchie. Drogenhändler, Schleuser und selbsternannte Milizen, die „Illegalen“, kontrollieren die Region, die beherrscht wird von Alcides Abundio. Allein Visitación Salazar widersetzt sich dem brutalen Großgrundbesitzer, der Ansprüche auf das „dritte Land“ erhebt und ihr seine Schläger auf den Hals hetzt, um sie von „Las Tolvaneras“ zu vertreiben.

Die Macht des Stärkeren

Karina Sainz Borgo versetzt ihre Leserschaft in eine von Männern dominierte Welt, in der die Normen des menschlichen Miteinanders außer Kraft gesetzt sind und allein die Macht des Stärkeren zählt. Skrupellos nutzen Abundio und seine Helfer die Not der Flüchtlinge aus und drangsalieren eine hoffnungslos überforderte Gemeinschaft, die sich ihrerseits mehr und mehr brutalisiert. Alkoholexzesse und tödliche Messerstechereien sind an der Tagesordnung. In den Grenzdörfern werden blutige Hahnenkämpfe ausgetragen, die nicht selten auch menschliche Opfer fordern.

Frauen wie Visitación Salazar und Angustias Romero gehören zu den wenigen, die sich in einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Angustia kümmert sich aufopfernd um ein schwangeres Mädchen, das ebenfalls in Mezquite gestrandet ist. Die 15-Jährige Consuela Matute hat auf der Flucht ihre Eltern verloren und ist das Opfer einer Vergewaltigung geworden. Nach Consuelas Tod wird Angustias deren kleine Tochter in ihre Obhut nehmen – und vielleicht endlich selbst Frieden finden.

Petra Pluwatsch

Lesungen

mit Karina Sainz Borgo im Literaturhaus Frankfurt am Main am 6. 3. 2023 um 19.30 Uhr, im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin am 7. 3. um 20 Uhr, im Literaturhaus Zürich am 8. 3. um 19.30 Uhr und in Köln in der Deutschen Innovations- und Entwicklungsgesellschaft im Rahmen der lit.Cologne am 9. 3. 2023 um 19 Uhr.  

Karina Sainz Borgo: „Das dritte Land“, dt. von Angelica Ammar, S. Fischer, 320 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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