Mit Schaum vor dem Mund: Eric Vuillard schildert in „Ein ehrenhafter Abgang“ die Niederlage Frankreichs in Vietnam

Besucherin im Kriegsopfermuseum (Bao tang Chung tich Chien tranh) in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon. Foto: Bücheratlas

Eric Vuillard stürmt weiter durch die Salons und Schützengräben der Geschichte. Mit seinen historischen Erzählungen, die einen stets flotten Faktenmix anbieten, ist er seit langem erfolgreich. So widmete er sich der Eroberung Perus, dem Ersten Weltkrieg, der Berliner Kongo-Konferenz, Buffalo Bill, der Französischen Revolution, einem Geheimtreffen Hitlers mit Industriellen – nämlich in „Die Tagesordnung“, wofür er 2017 den Prix Goncourt erhielt – und zuletzt Thomas Müntzer.

Hochmut und Fehleinschätzung

Nun fällt sein Blick auf Frankeichs Niederlage im Vietnamkrieg – und erneut auf ein Kolonialthema wie 2009 in „Conquistadors“ und 2012 in „Congo“. Es sollte „Ein ehrenhafter Abgang“ aus dem asiatischen Land werden, wie es im Titel heißt. Doch nach der Niederlage von Dien Bien Phu im Jahre 1954 kann davon keine Rede sein. Eric Vuillard zeigt uns die Strippenzieher in ihrem Tohuwabohu aus Hochmut und Fehleinschätzung.

Der Autor, 1968 in Lyon geboren, entfacht erneut einen bunten Wirbel. Mit Szenen aus dem Zentrum und solchen vom Rande, scheinbar unbedeutenden, aber doch bezeichnenden Episoden, durch die die Atmosphäre angedickt wird. Immer geht es munter voran. Oft geschieht dies sprunghaft, was nicht verwundert, wenn Großereignisse in Kurzform dargeboten werden.

„Rituelle Würdigung“ der Streitkräfte

Los geht es mit einer Inspektion im Jahre 1928 im fernen Kolonialgebiet: Französische „Gewerbeaufseher“ (im Original: „inspecteurs du travail“) kontrollieren die Arbeitsbedingungen auf den Plantagen des Großunternehmens Michelin. Diese sind erwartungsgemäß miserabel. Aber dem Profit bekommt’s.

Wenige Seiten weiter sind wir schon im Jahr 1950 und im zweiten Kapitel angekommen: Die Pariser Nationalversammlung debattiert, nach der „rituelle(n) Würdigung“ der Streitkräfte für ihren Kampf um „die Unabhängigkeit einer im Rahmen der Union française mit unserem Land verbündeten Nation“, über die Indochinapolitik.

Oberbefehlshaber lutscht am Löschpapier

Hier zeigt sich: Wem Eric Vuillard wohlgesonnen ist (es sind nicht viele), den hebt er in den Himmel. Pierre Mendès France gehört dazu. Nachdem der Politiker im Parlament dargelegt hat, dass der Krieg zu teuer sei, erfahren wir: „sein freimütiger, überzeugender Ton ließ“ – im Buch steht fälschlicherweise: ließen – „keinen Bürger kalt.“ Na, die entsprechende Umfrage würde man gerne einsehen.  

Jedenfalls sickert in Frankreich die Erkenntnis durch, dass ein militärischer Erfolg nicht absehbar sei. Doch Verhandlungen mit den Viet Minh werden als ehrenrührig verworfen. So dauert der Krieg noch etwas länger. Daher lernen wir Henri Navarre kennen, der im Mai 1953 zum französischen Oberbefehlshaber ernannt wird. „Wer war Navarre?“, fragt Eric Vuillard. Und er bekennt sogleich: „Ich weiß es nicht …“ Was ihn aber nicht daran hindert, recht ausführlich auf Navarre einzugehen und manche Bizarrerie anzuführen – etwa diejenige, dass er „an seinem Löschpapier lutscht“.

„Der angeblich so clevere Kissinger“

Eric Vuillards poetische Geschichtslektion ist fokussiert, abwechslungsreich, meinungsfreudig, ironisch und emotional. Er lässt keinen Zweifel daran, für wie verfehlt er die französische Politik jener Jahre hält. Ja, er gibt seiner Wut und Verachtung deutlichen Ausdruck.

Dabei scheut er nicht davor zurück, über die äußerliche Erscheinung der ihm missfallenden Politiker zu spotten: „Puterrot und nach Luft japsend“, „unter den sich breitmachenden Hinterteilen“, mit einer „feisten, behaarten Hand“. Nicht nur seine Landsleute bekommen ihr Fett weg, sondern auch „der angeblich so clevere Kissinger“. Der wird umstandslos geduzt: „Wie lächerlich bist du doch mit deinem entspannten Lächeln, deiner allwissenden Miene, deiner berühmten Brille, durch die du auch nichts gesehen hast.“ Man wünschte durchaus, der Autor hätte mit weniger Schaum vor dem Mund geschrieben.

Buxe statt Hose

Die geschmeidige Übersetzung besorgte ein weiteres Mal Nicola Denis (deren Name vom Verlag Matthes & Seitz mit gutem Grund erneut auf dem Buchumschlag angeführt wird). Sie unterstützt den bissigen Ton, indem sie dem einen Politiker eine „Buxe“ und keine Hose anzieht und sich den anderen auf „seine Hinterläufe“ stützen (gemeint ist wohl: stellen) lässt. Noch eine letzte Nörgelei: Dass in der deutschen Fassung Vokabeln wie „Mazarinaden“, „Fougassen“ (nichts das provenzalische Brot ist gemeint) oder „Félibre“ auftauchen, hebt zwar den Ton, aber nicht das Verständnis.

Es ist fraglich, ob Leserinnen und Leser, die mit Frankreichs Indochina-Vergangenheit nicht vertraut sind, hier immer den Überblick behalten. Zudem ist auf den 130 Textseiten recht viel von der Innenpolitik die Rede, deren Verwinkelungen möglicherweise ein französisches Publikum stärker interessieren als ein internationales. Gleichwohl leuchtet der Scheinwerfer, den Eric Vuillard hier bedient, markante Facetten eines dunklen Geschichtskapitels aus. Dies könnte der Anstoß zu eigenen und tiefergehenden Nachforschungen sein. Derweil befindet sich Eric Vuillard gewiss schon auf seiner nächsten Zeitreise.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir Eric Vuillards Revolutions-Lektion „14. Juli“ HIER besprochen.

Lesungen mit Eric Vuillard

in Frankfurt am Main in der Buchhandlung Weltenleser (20. 3. 2023, 19.30 Uhr); in Berlin im Literarischen Colloquium (21. 3. 2023, 19.30 Uhr), nochmal in Berlin in der Buchhandlung Knesebeck 11 (22. März 2023, 19 Uhr).

Eric Vuillard: „Ein ehrenhafter Abgang“, dt. von Nicola Denis, Matthes & Seitz, 144 Seiten, 20 Euro.

6 Gedanken zu “Mit Schaum vor dem Mund: Eric Vuillard schildert in „Ein ehrenhafter Abgang“ die Niederlage Frankreichs in Vietnam

  1. genau, auf der letzten Reise hatte ich Nan Shepherd dabei, Der lebende Berg! auch sehr schmal und toll, das hab ich dann gleich mehrmals gelesen. In der Mitnehmbibliothek der wunderbaren Herberge hier in Madras/Chennai liegt Ulysses in einer lilanen suhrkamp tb-ausgabe rum, geht leider gar nicht. Aber gelesen wird eh besser wieder daheim…

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