
Es ist eine sehr besondere Nacht für Samuel. Am nächsten Morgen wird seine Frau Lena aus dem Krankenhaus heimkehren, wo sie einen Jungen zur Welt gebracht hat. Die Vorfreude auf das neue Leben, auf Familie und Vaterschaft ist groß bei Samuel. Doch in dieser Nacht denkt er nicht nur an die Zukunft. Mehr noch treibt ihn die Vergangenheit um. Seine Gedanken kreisen um Großtante Rosa, „die letzte Überlebende von Auschwitz“, und um all die anderen Opfer des Holocaust.
„Camp Camp“ in Shtetl City
Mit ihrer Familie war Rosa einst vor Pogromen in Polen, wie es heißt, nach Frankreich geflohen. Man wähnte sich in Sicherheit. Doch dann marschierte Nazi-Deutschland in Paris ein. Terror und Deportation, Massenmord und ein fürchterlicher Überlebenskampf folgten. Rosa hat überlebt. Doch wie ihr das gelungen ist, wieviel Menschlichkeit sie dabei verloren hat, will sie niemandem erzählen. Ein grausiges Detail aus dem Lageralltag wird dennoch bekannt. Es ist eines um Geburt und Tod. Und es genügt, um die Hölle zu spüren.
Die Großtante will nach der Befreiung aus dem KZ nicht mehr zurück nach Frankreich. Sie bricht nach Texas auf, um in der Wüste ein Cabaret zu eröffnen. Ausgerechnet in der Wüste, möchte man ausrufen, als wollte sie an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnern – an den Exodus aus der Sklaverei. „Camp Camp“ nennt sie das Cabaret in Shtetl City. Am Ende jeder Vorstellung macht sie das Publikum mit ihrer Geschichte bekannt. Wenn sie sich dann in ihrer Erzählung dem Konzentrationslager nähert, belässt sie es bei „einer langen, morbiden Aufzählung“: Verhaftung, Viehwaggon, Selektion …
Die letzten Zeitzeugen
Nach seinem Roman „Wir waren eine gute Erfindung“ von 2019 (den wir auf diesem Blog HIER besprochen haben), widmet sich der Franzose Joachim Schnerf (Jahrgang 1987) erneut der Frage, wie man vom Holocaust erzählen kann. Im Vorgänger-Roman war es Großvater Salomon, der nicht über Auschwitz zu reden vermochte: „Um die Shoah zu erwähnen“, sagte er, „hatte ich nur meine Witze.“ Es waren verzweifelte Scherze, über die nur er lachen konnte. Auch Großtante Rosa vermag die Monstrosität des Grauens nicht in Worte zu fassen. So belässt sie es bei Stichworten.
Salomon und Rosa waren Zeitzeugen. Was aber wird, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Dies ist die Frage, die den Ich-Erzähler ausgerechnet in dieser Nacht umtreibt. Er gelobt, seinem Sohn so bald wie möglich von Tante Rosa zu berichten. Und von all den anderen Opfern. „Mein ganzer Körper hat das Bedürfnis, ihm davon zu erzählen, ohne ihn zu erschrecken, einfach nur, damit er es weiß.“ Damit die Erinnerung nicht vergehe. Damit die „transmission“, wie es Joachim Schnerf bei einer Buchvorstellung in Frankreich sagte, nicht gekappt werde.
„Wenn es morgen wieder hell wird“
Was Samuel in Gedanken und Gefühlen beschäftigt, ereignet sich in der Dunkelheit. Ein nächtliches Kindheitsabenteuer in den Vogesen, ein Nachtlager mit Lena, die ewige Nacht im KZ. Einmal sagt der Mann, der aufgrund seiner Familiengeschichte von Ängsten und Neurosen geplagt wird, dass Rosas Leben „ein ständiges Kaddisch“ gewesen sei. Ein anderes Mal verweist er auf Imre Kertesz‘ „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“. Und einem Kaddisch, einem Gesang für die Toten, gleicht auch „Das Cabaret der Erinnerungen“.
Refrainartig taucht in diesem Text die Zeile „Wenn es morgen wieder hell wird“ auf. Immer wieder und gerne am Anfang eines Kapitels. Sie stammt aus einem Lied, das Israelitische Pfadfinder in Frankreich (Les Éclaireurs Israelites de France) während der Résistance sangen: „Que cette nuit ne soit pas la dernière – Dass diese Nacht nicht die letzte sei“.
Nachtgedanken zwischen Gestern und Morgen
Joachim Schnerfs schmales Werk, das nur knapp 100 großzügig bedruckte Seiten zählt, steht als Roman auf sehr dünnen Beinen. Im Vergleich dazu ist „Wir waren eine gute Erfindung“, das eine ähnliche Erzählsituation hat, deutlich besser ausgestattet. Aber als Meditation weckt „Das Cabaret der Erinnerungen“ einige Anteilnahme bei der Lektüre. Vor allem sind diese Nachtgedanken zwischen Gestern und Morgen eine Mahnung, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Damit es auch morgen wieder hell werde.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Joachim Schnerfs Roman „Wir waren eine gute Erfindung“ HIER besprochen.
Das Projekt „Sichtbar machen“
dokumentiert online Interviews von Holocaust-Überlebenden. Die Texte, Bilder und Töne sind einsehbar unter: https://sichtbar-machen.online . Über das Projekt haben wir HIER berichtet.
Joachim Schnerf: „Das Cabaret der Erinnerungen“, dt. von Nicola Denis, Verlag Antje Kunstmann, 124 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.
