Ha Jin über das furiose Leben des Dichters Li Bai: Ein Unsterblicher zwischen Kaiserhof, Verbannung und der Schenke „Erstes Weinhaus unter dem Himmel“

„Große Mauern“ gab es in China schon zu Lebzeiten von Li Bai. Allerdings ist das imposante Bauwerk, das heute als „Große Mauer“ Touristen anlockt, erst in der Ming-Zeit im 15. Jahrhundert begonnen worden. Foto: Bücheratlas

Den Dichter Li Bai (701 – 762) schmücken einige Beinamen. In China wird er gerühmt als Verbannter Unsterblicher, als Unsterblicher der Dichtkunst und als Unsterblicher des Weins. Nach der Lektüre der sehr unterhaltsamen Lebensbeschreibung des Künstlers aus dem 8. Jahrhundert darf festgehalten werden: Jeder Beiname hat seine tiefe Berechtigung.

Troubadour der Tang-Zeit

Ha Jin, der 1985 aus China in die USA emigriert ist und für seinen Roman „Warten“ den National Book Award erhalten hat, türmt in „Der verbannte Unsterbliche – Das Leben des Li Bai“ eine enorme Menge an staunenswerten Fakten auf. Sie scheint viel zu groß für einen einzelnen Menschen zu sein. Aber es geht alles mit rechten Dingen zu. Li Bais nie versiegendes Verlangen zu Dichten, die immerwährenden Reisen durch das alte China, die exzessive Trunksucht, die zeitweilige Verbannung und die ewig konkurrierenden Sehnsüchte nach einem Hofamt und einem Rückzug als taoistischer Eremit – das sind die Grundpfeiler seines Lebens. Eine furiose Existenz zwischen Ruhm und Armut.

Li Bai war ein Einzelgänger. Mit den Worten von Ha Jin: „Ein strahlender Stern, der sein Licht auch aus der Gleichgültigkeit gegenüber der Welt unter ihm bezog.“ Ursprünglich sollte er eine Beamtenlaufbahn einschlagen. Doch stattdessen wandte er sich frühzeitig der Dichtkunst zu. Dies geschah zu einer Zeit, als „die Poesie in den Palästen wie auch in Städten und Dörfern eine wichtige Form der Unterhaltung“ war. Doch wer dichten will, muss auch etwas zu sagen haben. Ha Jin zitiert ein altes Sprichwort, in dem es heißt: „Erst wer zehntausend Bücher gelesen habe und zehntausend Meilen gereist sei, könne sich als gebildet erachten.“ Vielleicht auch deshalb war Li Bai auf ständiger Wanderschaft. Ein Troubadour der Tang-Zeit.

An den Quellen der Verse

Angesichts der großen zeitlichen Distanz, die weit mehr tausend Jahre beträgt, verblüfft die Tiefe der Darstellung. Da werden Gesprächsmomente rekapituliert, als belauschten wir heimlich den Dichter, und über sein Ehe- und Familienleben wird einigermaßen munter spekuliert: „Die Liebe und die Großzügigkeit seiner Frau schuf inmitten aller Missgeschicke einen sicheren Hafen für ihn.“

Es liegt auf der Hand, dass die Originalquellen für solche Einlassungen rar gesät sind. Doch Ha Jin weiß sich zu helfen. Der Autor bedient sich ausgiebig bei Li Bais literarischer Überlieferung. Dass es sich bei den Gedichten um Kunstwerke und nicht um Tagebucheinträge handelt, weiß der Biograf selbstverständlich. Auch ist ihm vertraut, dass das lyrische Ich zur Selbststilisierung neigt.

Ein Bruchteil des Werks ist überliefert

Gleichwohl lässt sich anhand der Verse der Lebensweg nachzeichnen, den Li Bai gegangen ist. Kaum eine Wendung scheint er in seinen Versen ignoriert zu haben. Offenbar hatte er immerzu Schreibmaterial zur Hand, um sich zu artikulieren. Davon zeugen zwei Sammlungen mit rund tausend Gedichten und Prosatexten. Das klingt nach einem erheblichen Werkkorpus. Allerdings handelt es sich dabei nur, wie Ha Jin schreibt, um einen „Bruchteil der enormen Arbeitsleistung des Dichters“. Das Meiste ist also verschollen.

Weiter greift der Biograf auf die Verse von Zeitgenossen zurück. Auch auf die des kaum minder berühmten Du Fu (712 – 770), der mit Li Bai befreundet war und ihm einige Gedichte gewidmet hat. Zudem stützt sich Ha Jin auf die Veröffentlichungen der chinesischen Biografen Zhou Xunchu, Li Changzhi und An Qi sowie auf die des Li-Bai-Instituts in Maanshan am Jangtse (wo das Grab des Dichters eine Touristen-Attraktion ist).  

„Harmonischer Regulator“ am Kaiserhof

Li Bais Gedichte befassen sich mit Himmel und Erde. Er war „nicht nur der romantische Dichter volkstümlicher Lieder“, lesen wir. Vielmehr spiegelte seine Kunst im höheren Alter „zunehmend auch sein Land und seine Zeit“. Im „Lied von Dinghdu“ übt er Sozialkritik: „Tausende Männer brachen riesige Steine, / und konnten sie kaum zum Ufer schaffen. / Sieh die vielen Felsbrocken, die noch herumliegen – / die endlose Fron macht mich weinen.“

Ha Jin lobt die Frische und Geschmeidigkeit der Verse, ihre überbordende Energie, Spontaneität, Originalität und ihren Bilderreichtum. Auch verfasste Li Bai anders als andere Tang-Dichter zahlreiche Gedichte aus weiblicher Perspektive. Formal hielt sich der Künstler kaum an etablierte Regeln. Zwar gab es am Hof einen Beamten, der als „Harmonischer Regulator“ amtierte. Doch dessen Vorgaben zum idealen Versbau scheinen Li Bai nicht weiter beeinflusst zu haben.

Das Mischen von Unsterblichkeitspillen

Der Dichter – der auch unter dem Namen Li Po bekannt ist – griff buchstäblich zu den Sternen.  Auch hat er den Mond in die chinesische Lyrik eingeführt. „Er stellte sich den Mond als heitere Landschaft vor“, schreibt Ha Jin, „mit großartigen Behausungen für die xian, die Unsterblichen, die dort umgeben von göttlicher Fauna und Flora und eigenen Haustieren lebten.“

Die Erlangung der Unsterblichkeit, zumindest aber die Verlängerung des Lebens war für Li Bai ein großes Ziel. Als Taoist glaubte er nicht an eine Wiedergeburt. Stattdessen galt es, dem Tod erst sehr spät die Tür zu öffnen. Eine Möglichkeit war, sich wenig zu verausgaben und auf diese Weise Kräfte zu sparen. Doch das entsprach nach allem, was wir lesen, nicht Li Bais Naturell. Stattdessen wandte er sich der taoistischen Praxis zu, lebensverlängernde Elixiere zu kreieren. Das Gedicht „Im Morgengrauen zur Himmelsterrasse aufblicken“ hält die Suche nach dem Zaubertrank fest: „Wenn ich meine Unsterblichkeitspillen bekomme, / werde ich in eine göttliche Welt entschweben.“ Das Mischen und Konsumieren der Substanzen war durchaus gefährlich, da auf der Suche nach dem ewigen Leben auch das Ableben durch Vergiftung möglich war.

„Große Offenheit des klassischen Chinesisch“

In dieser Lyrik wird einem alles Mögliche geboten. Wer freilich der Originalsprache nicht mächtig ist, wird ihre Finessen nur erahnen können. Jede Übersetzung ist nur eine grobe Annäherung. Das sagt uns Ha Jin. Und das bestätigt Susanne Hornfeck in ihrem Nachwort. Sie hat nicht nur den Band aus dem Englischen übersetzt, sondern ist als Sinologin auch in der Lage, die einschlägigen Probleme zu benennen. Einerseits weisen die Gedichte aus der Tang-Zeit hochkomplexe Strukturen auf (Endreime, Binnenreime, Parallelismus, Tonfolge etc.). Andererseits gibt es eine „große Offenheit des klassischen Chinesisch“ (kein agierendes Subjekt, keine sinnhafte Verknüpfung durch Numerus, Kasus, Genus, das Tempus ist relativ, Präpositionen fehlen). Um es kurz zu machen: „Den ursprünglichen Reiz dieser geformten Sprachkunstwerke in der Fremdsprache zu erschließen, grenzt also ans Unmögliche.“   

Mit seiner Kunst, deren Glanz wir Nicht-Sinologen nur ansatzweise erfassen können, hat es Li Bai tatsächlich einmal an den kaiserlichen Hof geschafft. Als Kaiserlicher Sekretär im fünften Beamtenrang. Doch bald schon geriet er dort ins Abseits und musste weiterziehen. Die eigene Trunkenheit und die Intrigen der Höflinge könnten dafür verantwortlich gewesen sein. Apropos Trunkenheit: Li Bai war eine Zeitlang Besitzer einer Schenke, die er „Erstes Weinhaus unter dem Himmel“ nannte.  

Verbannung und Amnestie

Als sich ihm später eine neue Chance ergab, um an den Hof zu gelangen, setzte er auf das falsche Pferd und machte sich für einen Rivalen des Kaisers stark. Politisch scheint Li Bai keine klare Peilung  gehabt zu haben. Jedenfalls wurde er verhaftet und in die Verbannung geschickt. Auf der monatelangen Reise zu seinem Bestimmungsort erreichte ihn die Nachricht von einer Amnestie. Gleich wähnte er sich zurück in kaiserlicher Gunst. Doch die Amnestie galt nicht ihm persönlich, sondern allgemein, da sich das Land in einer Dürre-Krise befand und eine Besänftigung der Bevölkerung nottat.

Ha Jin ist dem Dichter sehr wohlgesonnen. Doch seine Biografie der „Ausnahmebegabung“ ist kein Lobgesang ohne Wenn und Aber. Ein paar Kritikpunkte findet er schon. So verweist er unter anderem darauf, dass es eine Schaffensperiode gegeben habe, in der es Li Bai „generell an Ernsthaftigkeit“ gemangelt habe. Da sei seine Lyrik „von zweifelhafter Moral und einem fragwürdigen Frauenbild geprägt“ gewesen. Aber – es war nur eine Phase.  

„Regieren durch Nicht-Handeln“

Was diese Biografie auch bewirkt: Gleich hat man Lust, noch tiefer einzutauchen in die Tang-Zeit. Die Blitzlichter in diese hierzulande kaum bekannte Ära sind jedenfalls sehr verlockend. So gehörte zur Staatsführung das „Regieren durch Nicht-Handeln“; diese Praxis ging von der Annahme aus, „durch Frieden und Laissez-Faire würden die Fähigkeiten des Volkes am besten zur Geltung gebracht.“ Und glücklich konnte sich der Gast schätzen, dem der Kaiser persönlich die Suppe einschenkte; rührte er diese sogar noch eigens mit dem Löffel um, war dies ein atemberaubender Gunstbeweis. Aber bleiben wir bei Li Bai!

Unbekannt sind Datum und Ort der Geburt des Dichters (vielleicht stammte er aus Sichuan, vielleicht aus dem kirgisischen Suyab). Ebenso unbekannt sind Todestag und Todesart im Jahre 762. Zuletzt hatte er abgeschieden und in kargen Verhältnissen bei seinem Sohn in Dangtu gelebt. Die Nachricht von seinem Ableben sprach sich daher nicht wie ein Lauffeuer herum. So fügte es sich, dass Li Bai zwei Jahre später, im Januar 764, als Berater an den kaiserlichen Hof berufen wurde. Es war eine Stelle, nach der er sich gesehnt hatte. Dass die Berufung nach seinem Tod erfolgte, passt nur zu gut zu einem Leben voller Paukenschläge.

Martin Oehlen

Ha Jin: „Der verbannte Unsterbliche – Das Leben des Li Bai“, dt. von Susanne Hornfeck, Matthes & Seitz, 304 Seiten, 26 Euro.

3 Gedanken zu “Ha Jin über das furiose Leben des Dichters Li Bai: Ein Unsterblicher zwischen Kaiserhof, Verbannung und der Schenke „Erstes Weinhaus unter dem Himmel“

  1. Oh Dank zurueck, und auch diese Blumen sind mit Freude hier angekommen! Ha Jin find ich eh toll, muss ich unbedingt lesen, wenn der Reisesehnsucht dann wieder vom Sessel aus nachgehangen werden muss (zweitbeste Art)

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