„Eine brennende Neugier“: Günther Rühles Abschluss seiner dreibändigen Erkundung „Theater in Deutschland“  

Alles Theater Foto: Bücheratlas

Eine Besonderheit in dreifacher Hinsicht ist der dritte Band von Günther Rühles grundlegendem Werk „Theater in Deutschland“. Zum Ersten ist die Darstellung der Jahre 1967 bis 1995 trotz ihrer nahezu 800 Seiten Fragment geblieben, da der langjährige Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und spätere Intendant des Frankfurter Schauspiels im Dezember 2021 gestorben ist. Der Autor selbst verweist auf die Leerstellen im Mittelteil. Er schreibt, dass „wesentliche Stücke wie die Ära von Peter Palitzsch in Frankfurt, von Claus Peymann in Bochum und Wien, von Hansgünther Heyme in Köln, Stuttgart, Essen, von Dieter Dorn in München“ fehlen.

„Treiber der Ereignisse“

Die zweite Besonderheit ist, dass der Band dennoch strotzt vor großen Theaternamen (Neuenfels, Stein, Fassbinder, Zadek etc.) und spektakulären Theateraufführungen (wie dem „Viet Nam Diskurs“ von Peter Weiss, zu dessen Frankfurter Uraufführung im Jahre 1967 „über zweihundert Plätze“ für die Presse reserviert waren). Die dritte Besonderheit ist schließlich, dass Günther Rühle die dramatische Ära, die hier beschrieben wird, die „Ereignisse und Menschen“ des Theaters in Deutschland, leibhaftig miterlebt hat. Er tat dies vor und hinter der Bühne.

Dies gilt nicht zuletzt für die – nun – dramatischen Ereignisse vor und während des Falls der Mauer. Die Theater, so lesen wir es bei Günther Rühle, hätten als „Treiber der Ereignisse“ ihren Anteil am Sturz der unfreien Ordnung gehabt. Vor diesem Hintergrund spricht er ausführlich über den „wilden“ Frank Castorf, dessen „verstörende Aggression“ eine Novität im Westen gewesen sei, und über Heiner Müller, den „Mann im anarchischen Schwarz“, der „eine zentrale Figur“ des Übergangs gewesen sei.  

„Die Nöte eines Theaterleiters“

Es ist so, wie es die Herausgeber Hermann Beil und Stephan Dörschel in ihrem Vorwort skizzieren: Das Buch zeuge von „einer brennenden Neugier auf neue Entwürfe der Regisseure“, von einem „subtilen Gespür für die Kunst der Schauspielerinnen und Schauspieler“ und zeige zudem „echtes Verständnis für die Nöte eines Theaterleiters“.

Unübersehbar ist es auch das Buch eines Theatergängers, dem das aktuelle Bühnengeschehen ein wenig fremd geworden ist. Nicht dass früher alles besser gewesen wäre. Aber einiges schon – nachzulesen im ersten Band über die Jahre 1887 bis 1945, der 2007 erschienen ist, und in dem zweiten Band über die Jahre 1945 bis 1966, der 2014 folgte. Günther Rühle beklagt einen Verlust an „thematischer, bildnerischer, darstellender und sprachlicher Kraft“. Nicht von den emanzipativen Künsten, sondern von den digitalen Techniken werde unsere gegenwärtige Kultur geprägt. „Intensität ohne Intimität“ oder „Energie ohne Beseeltheit“ sind nur zwei Formulierungen auf seiner Mängelliste.

Was damit vor allem gesagt werden soll: Meinungsstark und interpretationsfreudig bleibt „Theater in Deutschland“ bis zum Schluss. Ohne Frage ist es ein Buch für Liebhaberinnen und Liebhaber der Kunstform. Bühne frei für Günther Rühle.

Martin Oehlen

Günther Rühle: „Theater in Deutschland 1967 – 1995. Seine Ereignisse – seine Menschen“, hrsg. von Hermann Beil und Stephan Dörschel, S. Fischer, 796 Seiten, 98 Euro. E-Book: 59,99 Euro.

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